Berufungen

Die lange Zeit, die vom Wahrspruch der Geschworenen bis zur Urteilsverkündung verstrich, erklärt sich durch die vielen Anläufe seitens der Verteidigung, den Fall erneut zu verhandeln. Bis 1927 brachte die Verteidigung acht Revisionsanträge ein.

ThayerDer erste Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde bereits am 18. Juli 1921 gestellt und am 5. November behandelt.   Die Verteidigung vertrat darin die Ansicht, dass die Entscheidung der Geschworenen durch Vorurteile getrieben war und im Widerspruch zur Beweislage stünde. Am 24. Dezember wies Richter Thayer den Antrag erwartungsgemäß ab. Thayer strich in seiner Begündung heraus, dass er nicht bereit wäre, die Heiligkeit des durch die Geschworenen geleisteten Eides zu verletzen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre folgten fünf Zusatzanträge, die Anfang Oktober und Anfang November 1923 verhandelt wurden. Etwa ein Jahr später fällte Richter Thayer die Entscheidung, alle fünf Anträge abzulehnen.

 
   
 
„Ripley-Daly-Antrag“: Befangenheit des Geschworenenobmannes.
   
„Gould-Pelser-Antrag“: Versteckte und falsche Zeugenaussagen.
   
„Goodridge-Antrag“: Falschaussage eines Verbrechers.
   
„Andrews-Antrag“: Widerruf einer belastenden Aussage.
   
„Hamilton-Proctor-Antrag“: Neues zur Kugel III.
   
Der Anwalt wird gegangen...
 
     
   
 

„Ripley-Daly-Antrag“, gestellt am 8. November 1921:

Walter Ripley, Geschworenenobmann, zog die Patronen von Vanzettis Revolver in seine Gespräche mit den Geschworenen mit ein, obwohl es verboten war, nicht zugelassenes Beweismaterial in Betracht zu ziehen.

Brisantester Aspekt des ersten Zusatzantrags war die eidesstattliche Erklärung eines Freundes des Geschworenenobmannes Walter H. Ripley: Nachdem er Ripley gegenüber geäußert habe, dass Sacco und Vanzetti wohl unschuldig seien, habe Ripley geantwortet: „Zum Teufel mit ihnen, man sollte sie auf jeden Fall aufhängen!“

Die Ablehnung:

Thayer hielt in seiner Begründung fest, dass es zwar Gespräche über Patronen, wie sie Vanzettis ähnlich waren, gegeben hätte. Doch weil sich keiner der Geschworenen an die Inhalte der Gespräche erinnerte, scheinen die keinen Einfluss ausgeübt zu haben.
Außerdem führte er aus: „...  ich [bin] nicht bereit, das Andenken Mr. Ripleys zu trüben.“
Die eidesstattliche Erklärung Dalys erwähnte er nicht weiters: Dieser Teil des Antrags wurde ignoriert.

 
     
 
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„Gould-Pelser-Antrag“, eingebracht am 4. Mai 1922:

Auf Roy E. Gloud, einen Hausierer, hatte einer der Gangster aus dem Fluchtwagen geschossen. Seine Beschreibung, die er über diesen Mann abgab, deckte sich weder mit Sacco noch Vanzetti – von der Staatsanwaltschaft wurde er nicht als Zeuge geladen. Die Verteidigung konnte ihn erst nach dem Prozess ausfindig machen und wollte – nachdem Gloud definitiv Sacco und Vanzetti als Täter ausschloss - , dass er als Zeuge bei einer neuen Verhandlung gehört wird.

Der Antrag beinhaltete auch den schriftlichen Widerruf einer belastenden Zeugenaussage. Louis Pelser, der Sacco identifizierte, wurde von Moore aufgesucht. Der überredete ihn, eine Eidestattliche Erklärung zu unterzeichnen, in der er seine Aussage zurückzog. Bei dem Treffen soll Pelser auch durchblicken lassen, dass er von der Staatsanwaltschaft zur seiner belastenden Aussage gedrängt worden wäre. Zwei Tage nach seiner Unterschrift unter der Erklärung meldete er sich jedoch bei Katzmann und erhob Vorwürfe gegen Moore, ihn unter Druck gesetzt zu haben, und blieb bei seiner Version, jemanden gesehen zu haben, der Sacco ähnlich war.

Die Ablehnung:

Laut Richter Thayer wäre die weitere Zeugenaussage für den Wahrspruch irrelevant.
„Die Beweise, die zur Verurteilung geführt haben, waren Indizien und das, was in der Jurisprudenz als ‚Schuldbewusstsein’ bekannt ist. Diese Beweise, die weitgehend von Augenzeugen bestätigt wurden, waren maßgebend für die Schuldsprüche.“

Durch eine Zusammenfassung der belastenden Indizien rechtfertigte Thayer sodann den Schuldspruch: Er nannte die Lügen nach der Verhaftung und gab sich überzeugt, dass beide ihre Waffen gegen den Beamten bei der Verhaftung benutzen wollten. Der Radikalismus würde dies nicht rechtfertigen. „Wenn die unter Eid stehenden Geschworenen zu der Erkenntnis gelangten, dass die Ermordung von Parmenter und Beradelli die einzig wahre und logische Erklärung sei [für Saccos und Vanzettis falsche Angaben bei den ersten Verhören in Brockton, Anm.], sollte ich also nun, durch Aufhebung ihres Wahrspruchs, erklären, dass sie nicht zu dieser Erkenntnis hätten kommen dürfen?“

Zu Pelser stellte er fest, dass dessen ohnehin zurückgezogene Eklärung unglaubwürdig wäre. Außerdem schenkte er den eidestattlichen Erklärungen der Staatsanwaltschaft vollsten Glauben, in denen Katzmann und Williams bestritten, Druck auf Pelser ausgeübt zu haben.

 
     
 
Wie sich die Aussagen Pelsers immer wieder geändet hatten.
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„Goodridge-Antrag“, gestellt am 22. Juli 1922

Goodridge, ein vorbestrafter Zeuge, der gegen Sacco aussagte, hieß in Wirklichkeit Erastus Corning Whitney und war in New York zweimal wegen Betrugs verurteilt worden und war auf der Flucht vor einer weiteren Anzeige. Seine geschiedene Frau berichtete über seinen Hass auf Italiener. Moore heftete sich auf Goodridges Fersen und ließ ihn schließlich aufgrund der Anzeige einsperren, als er nicht bereit war, seine Aussage zu widerrufen.

Die Ablehnung:

Die Begründung für die Ablehung des Goodridge-Antrags bezog sich einerseits auf die Irrelvanz seiner Aussage vor Gericht, die erfolgreich von anderen Zeugen entkräftet wurde, andererseits auf die unlauteren Maßnahmen Moores, um Goodridge zu einem Widerruf seiner Aussage zu nötigen.

 
     
 
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„Andrews-Antrag“, gestetllt am 11. September 1922

Um an den Widerruf der Aussage von Lola Andrews zu kommen, drohte Moore, gewisse Erkenntnisse über ihre Vergangenheit öffentlich zu machen. Sie unterzeichnete auf diesen Druck hin zwei eidesstattliche Erklärungen, in denen sie festhielt, von der Staatsanwaltschaft zu den Aussagen gezwungen worden zu sein und dass Sacco nicht der Mann gewesen wäre, den sie gesehen hatte. Später meldete sie Moores Verhalten beim Staatanwalt und widerrief die unterzeichneten Erklärungen.

Die Ablehnung:

Weil Moore den Widerruf der Aussage von Lola Andrews erzwungen hatte, lehnte Thayer den Antrag ab und warf Moore „berufsschädigendes Verhalten“ vor. „Mr. Moore scheint der Ansicht zu sein, dass ein enthusiastischer Glaube an die Unschuld seiner Mandanten alle Mittel rechtfertige, um zum Ziel zu kommen.“

 
     
 
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„Hamilton-Proctor-Antrag“, eingebracht am 30. April 1923, ergänzt am 5. November 1923

Zwei Sachverständige (Albert H. Hamilton und Augustus H. Hill) untersuchten abermals die Kugel III beziehungsweise die Patronenhülse, und schlossen aus, dass diese aus Saccos Colt abgefeuert wurden. Zwei Sachverständige der Anklage widersprachen dieser Erkenntnis. Ergänzt wurde der Antrag mit einer eidesstattlichen Erklärung des Sachverständigen Proctor. Dieser distanzierte sich nun eindeutig von seiner missverständlichen Aussage bezüglich Saccos Colt: Der Staatsanwalt hätte demnach gewusst, dass er, Proctor, keinen ballistischen Beweis gegen Sacco habe. Durch die geschickte Fragestellung wäre Proctors eigentliche Aussage verdreht worden.

Die Ablehung:

Thayer entschied, den Ballistikern der Staatsanwaltschaft zu glauben.
Über die eidesstattliche Darstellung des inzwischen verstorbenen Proctor zeigte sich Thayer entsetzt, da  „Ehre und Integrität“ der Staatsanwaltschaft damit angegriffen würden.

 
     
 
Mehr zur tödlichen Kugel III.
Vor dem nächsten Antrag kam es zu einer Wende.
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