Fuller

Fullers Kommission

Als Gouverneur hatte Fuller das Recht, in seinem Bundesstaat gefällte Urteile gnadenhalber oder aus rechtlichen Gründen aufzuheben. Konfrontiert mit dem Gnadengesuch Vanzettis und den anhaltenden Protesten gegen das Urteil, entschied sich Fuller für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Das Defense Committee zeigte sich hoffnungsvoll und sagte geplante Demonstrationen für die Zeit der Untersuchung ab.

Am 1. Juli gab Fuller die Zusammenstellung der Kommission bekannt: Samuel W. Stratton, Präsident des Massachusetts Institute of Technology,  Robert A. Grant, ehemaliger Richter am Nachlaßgericht, und als Vorstitzender Abbott Lawrence Lowell, Präsident von Harvard.
Keines der Mitglieder hatte Erfahrung mit Kriminalfällen. Dennoch wurde deren Ernennung allgemein begrüßt.
LowellAuch die Tatsache, dass Lowell jahrelang in der Immigration Restriction League für eine rigide Politik gegen Einwanderer eintrat und 1922 in Havard einen Numerus clausus für Juden einführen wollte, fand vorerst keine weitere Beachtung.
Stratton und Grant (der, wie bekannt wurde, bereits zuvor gegen Sacco und Vanzetti Stellung bezog) folgten der Leiung Lowells ohne nennenswerten Initiativen.

 
     
 
Die fragwürdigen Untersuchungen der Kommission.
Zeiger Der Schlussbericht.
 
     
   
 

LowellDie Untersuchungen

Die Lowell Commission nahm ihre Arbeit offiziell am 11. Juli 1927 auf. Die für diesen Tag geplante Hinrichtung wurde daher auf den 10. August 1927 verschoben. Sacco und Vanzetti wurden bereits ab 30. Juni im Gefängnis Charlestown untergebracht, wo die Hinrichtung stattfinden sollte.

Bereits am Beginn der Untersuchungen hatte sich für Thompson und Ehrmann, die für die Verteidigung an den Anhörungen teilnahmen, der Eindruck verschärft, dass sich das eingesetzte Komitee als Ankläger begriff, die jeden Hinweis auf die Unschuld der Männer zu Fall bringen wollten. Um den Untersuchungen die Legitimität abzusprechen hatten beide ernsthaft vor, an den Anhörungen nicht teilzunehmen, wurden jedoch von einem Richter sowie Felix Frankfurter umgestimmt, die Vertrauen in Lowells Einsicht demonstrierten. Außerdem, so deren Befürchtung, könnte ein Rückzug als Zeichen mangelnden Glaubens in die Unschuld der Angeklagten gewerten werden. Die Lowell Kommission schloss die Verteidigung allerdings von sich aus von den Einvernahmen von Richter Thayer und den Geschworenen aus. Auch der Aussage von Katzmann durften sie nur teilweise beiwohnen.

Während der rund zweiwöchigen Untersuchung ergaben sich zwei besonders bemerkenswerte Episoden.

 
     
 
Zeiger Lowell "überführt" die Alibi-Zeugen.
Zeiger Eine eigenartige Zeugin.
Zeiger Zum Ergebnis der Untersuchung.
Zeiger Die Zusammensetzung der Kommission.
 
     
   
 

Lowell will Saccos Alibi stürzen

Im Zuge der Untersuchungen bemühte sich Lowell, das Alibi von Sacco zu entkräften:
Überraschend für die Verteidiung wurden zwei wesentliche Alibizeugen Saccos geladen: Felice Guadagni und Albert Bosco, die beiden aussagten Sacco am 15. April in Boston getroffen zu haben. Wegen eines Banketts, dass direkt davor stattfand, konnten sich beide so gut an jenes Datum erinnern, sie die Aussage der beiden. Bei den getrennten Zeugenbefragungen konfrontierte sie Lowell schließlich mit der Tatsache, dass laut Zeitungsberichten der Gazetta del Massachusetts und des Boston Evening Transcrips dieses Bankett erst am 13. Mai stattgefunden hatte. Lowell machte klar, dass nun ein gewichtiges Alibi zerstört war. Thompson schien ebenso verblüfft wie die Zeugen, wobei Bosco allerdings so überzeugt blieb von seiner Aussage, dass er den Gegenbeweis antreten wollte. Er beharrte darauf, als Redakteur der La Notizia über das Bankett am 15. April berichtet zu haben – und legte am nächsten Tag tatsächlich jene Aussagen der Zeitung vor, die bewiesen, dass es zwei Banketts zu Ehren Mr. Williams gab, eines davon am 15. April 1920. Gegenüber der Verteidiung räumte Lowell zwar seinen Fehler ein. Doch untersagte er einerseits Bosco, über diesen Irrtum und seine Richtigstellung öffentlich zu berichten. Schwerer wog seine Intervention auf den Protokollführer: Dass der Gegenbeweis angetreten wurde, schien im Protokoll nicht auf. Stattdessen war nur zu lesen, dass in die mitgebrachten Zeitungen „Einsicht genommen“ wurde. Was diese Einsicht brachte, wurde bewusst ausgelassen, nur die Anschuldigung, dass beide Zeugen gelogen hätten, war genau ausgeführt.

 
     
 
Zeiger Eine eigenartige Zeugin.
Zeiger Zum Ergebnis der Untersuchung.
 
     
   
 

Eine eigenartige Zeugin

Als Zeugin, die Saccos behauptete Unschuld ins Wanken bringen sollte, wurde von der Kommission Carlotta T. Tattilo präsentiert. In South Braintree war sie, die auch unter den Namen Carlotta Packard (Mädchenname) und Mrs. Charmrock (Name ihres ersten Mannes) geführt wurde, bekannt als „Verrückte“ (Polizeipräsident von Braintree, J. Gallivan). Weder Polizisten noch andere, denen sie ihre Geschichte über Saccos angebliche Beteiligung am Überfall erzählte, nahm sie ernst. Sie behauptete, Sacco als Mitarbeiter der Rice & Hutchinson Fabrik im Jahr 1908 gesehen bzw. gekannt, und ihn so auch später als Beteiligten bei dem Überfall identifiziert zu haben.  1908 kam Sacco jedoch erst als siebzehnjähriger in die Vereinigten Staaten und schlug sich nachweislich bei anderen Betrieben durch. Als Lowell diese Angabe als offensichtlichen Irrtum („slip“) bezeichnete, reagierte sie überzeugter denn je: „1908. Wenn ich mich irre, sage ich’s schon.“ Katzmann vermied es bewusst, sie als Zeugin vor Gericht zu laden: Ihre widersprüchlichen Aussagen änderten sich laufend, auch während der Verhöre vor der Kommission. Doch Lowell versuchte, durch mehrere Erklärungsmodelle Tattilos Aussage glaubwürdig zu machen. So würden seine Ansicht nach deswegen keine Unterlagen über Saccos Dienstverhältnis im Jahr 1908 vorliegen, weil angeblich einige Unterlagen bei einem Brand vernichtet worden sind.

Die Verteidigung bot Zeugen, die übereinstimmend über Tattilo berichteten, sie hätte eingesehen, dass sie Sacco wohl mit jemand anderen verwechselte, der ähnlich aussah. Sogar sie selbst sagte wiederholt vor dem Komitee: „Ich glaube nicht, dass ich ihn gesehen habe…“ Dennoch stand im Schlussbericht zu lesen: „Die Frau ist exzentrisch, ihr Verhalten zweifelhaft; doch das Komitee glaubt, ihre Aussage ist es in diesem Fall wert, berücksichtigt zu werden.“

 
     
 
Zeiger Saccos Alibizeugen werden "überführt".
Zeiger Zum Ergebnis der Untersuchung.
 
     
   
 

Der Schlussbericht

Die Untersuchungen endeten bereits am 25. Juli, der Schlussbericht wurde dem Gouverneur am 27. Juli vorgelegt. Lowell und die beiden anderen Komissionsmitglieder beschreiben darin das Verfahren als fair: es gäbe keinen Zweifel an der Schuld des Angeklagten Sacco, und insgesamt auch keinen Zweifel an der Schuld Vanzettis („On the whole, we are of the opinion that Vanzetti was also guilty beyond a reasonable doubt.“).

 
     
 
Zeiger Fullers Entscheidung.
Zeiger Öffentliche Reaktionen nach der Veröffentlichtung.
 
     
   
 

FullerFullers Entscheidung

Am späten Abend des 3. August verkündete Fuller seine auf diesen Bericht gestützte Entscheidung, Sacco und Vanzetti weder zu begnadigen noch einen neuen Prozess zu gewähren.

 

 
     
 
Zeiger Die letzten Rettungsversuche.
Zeiger Die öffentlichen Reaktionen auf den Bericht.
 
     
   
 

Befriedigung und scharfe Kritik

In der breiten Öffentlichkeit und den meisten Zeitungen wurde der Bericht der Kommission, der erst Tage nach der Entscheidung Fullers veröffentlicht wurde, befriedigt zur Kenntnis genommen. Nur wenige kritische Stimmen verwiesen auf vermeintliche Unzulänglichkeiten. So fragte der Schriftsteller John Dos Passos in einem offenen Brief an Lowell: „Erschien dem Ausschuss die Beweisführung der Staatsanwaltschaft als so schwach, dass er sie durch eigene neue Schlussfolgerungen und Vermutungen untermauern musste?“ Er hätte den Eindruck, der Bericht wolle nicht überprüfen, sondern die bisherigen Entscheidungen respektabel machen. Tatsächlich bestätigt der Bericht die Beschlüsse von Richter Thayer, indem Zeugenaussagen herangezogen werden, die wegen deren Unglaubwürdigkeit vor Gericht nicht gehört wurden.
Als bezeichnend für die trotz großer Anstrengungen letztlich schwache Beweislage gilt die widersprüchlich formulierte Schlussfolgerung, wonach an Vanzettis Schuld „on the whole“ (etwa „im großen und ganzen“) kein Zweifel bestehe: Die Schuld eines Angeklagten müsse absolut zweifelsfrei bewiesen sein, um einen Schuldspruch und somit die Todesstrafe zu rechtfertigen.

 
     
 
Zeiger Fullers Entscheidung.
Zeiger Die letzten Rettungsversuche.