Die letzten Briefe  
 
SACCO

VANZETTI
 

Am 23. August 1927 wurden Sacco und Vanzetti hingerichtet. Das PROJEKT SACCO-VANZETTI übersetzt und dokumentiert auf ihre Briefe aus dem Todesjahr.

Die Übersetzung folgt der einzig vorliegenden und editierten Fassung des Buches The Letters of Sacco & Vanzetti (Erstausgabe The Viking Press, 1928). Die Briefe wurden von den beiden auf Englisch verfasst. Vanzetti beherrschte die fremde Sprache besser als Sacco. Wir haben davon abgesehen, das teils sehr brüchige Englisch und die Rechtschreib- oder Grammatikfehler in die deutsche Sprache zu übertragen. Stattdessen blieben wir nach bestem Wissen und Können den Gedanken treu.

Übersetzer: Ralph Turnheim, unter der Mitarbeit von Thomas Weppel und Thomas Warmuth.


 

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10. Januar 1927, Gefängnis Charlestown

Liebe Genossin Blackwell!

Auf Deine Glückwunschkarte zu Weihnachten hatte ich schon geantwortet, glaube ich. Dieses Jahr erhielt ich zu Weihnachten und Neujahr viele Geschenke und eine Menge Briefe. Später erhielt ich "The Life of Debs" und danach "Essays on Revolt" von Jack London. ...

Die letzten sechs Weihnachtsabende hatten wir Filmvorführungen und ein gutes Abendessen, bevor wir bis zum nächsten Morgen wieder eingekerkert wurden. Das war mein sechstes Weihnachten der Hölle im Gefängnis. Ich schaue zurück; die Vergangenheit war schlimm genug, dachte ich, aber das Schlimmste kommt erst noch. Das war eine bittere Weihnacht.

Am Morgen des ersten Tages des neuen Jahres führte die Clives Company die Komödie "A Pile of Money" hier für uns auf. Es ist sehr amüsant gewesen. Mr. Clive kommt einmal im Jahr um uns zu unterhalten. Das ist sehr nett von ihm. Nach dem Stück hat wir eine volle Stunde Hofgang. Dann gab es ein gutes Abendessen mit Milchreis, und wir wurden bis zum nächsten Morgen eingesperrt. Das also, dachte ich, ist mein siebtes Jahr hinter Gittern, wegen zwei Verbrechen, derer ich vollkommen unschuldig bin. Wie viele Jahre werde ich noch in Ketten verbringen müssen, bevor mich der Tod zu sich holt? Es sind schwarze Selbstgespräche, die ich führe.

Ich weiß sehr gut, dass Massachusetts innerhalb vier Monate bereit ist, mich zu verbrennen. Ich weiß, dass erst die Magistratur und dann der Staat nach Belieben mit mir verfahren können. Nun, wenn ich mich geistig an ihre Stelle setze und sie an meine, sähe ich mich in der unangenehmen Position, zwischen zwei Alternativen wählen zu müssen; ihm das Weiterleben gewähren oder ihn hinrichten lassen. Genau bedacht, gibt es für beide Möglichkeiten gute Argumente. "Ihn hinrichten lassen" mag nicht ganz sicher sein, aber könnte uns weitere Probleme ersparen; ihn am "Leben" lassen birgt ebenfalls einige Unannehmlichkeiten. Dass Massachusetts darauf aus ist, mir jedes Recht zu nehmen und mich auf die ein oder andere Weise zu töten, davon bin ich überzeugt.

Jede Hoffnung auf Wiedergutmachung oder Freiheit wurde in mir längst getötet durch all die Worte und Taten der schwarz-robigen, puritanischen, kaltblütigen Mörder von Massachusetts. Am ersten Tag von 1927 formulierte ich den Wunsch, ich möge noch in diesem Jahr hier herauskommen, egal, ob lebendig oder tot. Und ich hoffe mit aller Kraft, dass dieser Wunsch wahr wird. Damit meine ich keinen Suizid.

Oftmals schaue ich mich mit meinen inneren Augen um, betrachte und studiere die Welt und die Menschheit nachdenklich. Ein extrem widerwärtiger und herzzerreißender Anblick. Man weiß dabei nicht, ob man die Menschheit lieben oder hassen, sie bemitleidenswert oder abstoßend finden soll.

Die Zustände werden immer schlimmer. Krieg in China, Nicaragua, Revolution in Java, Mexiko, Brasilien; der Balkan an der Schwelle zum Krieg; Frankreich und Italien mobilisieren gegeneinander; England, Vereinigte Staaten, Frankreich und Japan beim verrückten Wettrüsten; Südamerika und Vereinigte Staaten drohen der Krieg; Italien geleitet von einer faschistischen Diktatur; Russland von einer bolschewikischen; Skandale, Korruption, Verbrechen, Seuchen, Degeneration, Gier, Hass, Unkenntnis, Vorurteile und Unvernunft überschwemmen die Erde. Ich frage mich, wie das alles enden wird. Es gibt nur ein System, eine Philosophie, durch die ich mir die Ursachen dieser weltumspannenden Tragödie erklären kann, als auch die Heilmittel, die freilich durch die menschliche Willenskraft angespornt sein sollten: Es ist die "Philosophie des Elends" von Proudhon. Ich habe das Buch noch nicht zur Gänze gelesen, nur ein paar Fragmente in unseren Zeitschriften hie und da, dann und wann. Doch weil ich einige ausgesuchte Seiten aus "The War and the Peace" von Proudhon übersetzt hatte, verstehe ich das zuvor genannte Buch, den beide basieren auf denselben Kriterien und Theorien. Immer und überall lässt sich Massenarmut als erste Ursache eines Krieges ausmachen. Als erstes gilt das Faustrecht, alle weiteren Rechte sprießen daraus wie die Äste aus dem Setzling. Wann immer sodann eine Situation entsteht, die durch kein anderes Gesetz zu lösen ist, kehrt der der Einzelne und das Kollektiv zu dieser brachialen Gewalt zurück. "Gleichheit ist die Voraussetzung (sine qua non) für Gerechtigkeit." Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben einen gemeinsamen Ursprung; der Respekt des Menschen vor sich selbst und vor der Würde des Einzelnen. Wenn diesen beiden Arten der Liebe und des tief innewohnenden Respekts Pläne und Taten folgen, die auf die Gleichheit bei der Produktion und der Verteilung, der Achtung und es Recht hinauslaufen, dann ist es Gerechtigkeit. Wenn wir aufgrund dieser Liebe und dieses Respekts dazu verleitet werden, Privilegien für uns und jene, die wir lieben, zum Schaden anderer zu einzurichten, dann ist es Ungerechtigkeit.

Armut ist das Schicksal der Menschen auf der Erde. Wenig zu leben, hart zu arbeiten, stets zu lernen; die Leidenschaft für die Gerechtigkeit und die Philosophie, aufrechtzuerhalten und enthaltsam zu sein, - darin liegt unser Schicksal. Wir führen Krieg, weil wir nicht heldenhaft genug sind ein Leben zu führen, das den Krieg nicht nötig hat.

Proudhon beschreibt grandios, welche Konsequenzen Massenarmut und Reichtum haben; beides ist fatal. Aber ich glaube nicht, dass die Übersetzung publiziert wird. Sie enthält zu viele Wahrheiten.

In den ersten 30 Minuten des 6. Januars tötete der Staat von Massachusetts drei Männer auf dem Elektrischen Stuhl. ...

Aus dem falschen Ruhm eines guten Streikbrechers heraus erbaute Coolidge sein politisches "trojanisches Pferd".

Um Präsident zu werden, wird uns Fuller allesamt verbrennen; alle sieben. Ich hätte gerne, dass du seinen Artikel "Warum ich an die Todesstrafe glaube" liest, erschienen im Success vom Dezember 1926. Darin behauptet er, Massachusetts von Verbrechen befreit zu haben und dass er glaubt, dank der damals anstehenden Hinrichtungen als Heilsbringer zu erscheinen.

Am 5. Januar erfuhr ich, dass 3 Männer nach Mitternacht getötet werden. Weil die Teilnehmer und Zeugen einer Exekution meist im Anschluss mit dem Gefängnisdirektor essen, wurden in unserer Küche drei Schweineschinken gekocht und am 5. Januar zum Haus des Direktors gebracht. Daher wussten wir es. Ich wollte diese Nacht wach bleiben, um von meiner Zelle aus der Hinrichtung beizuwohnen. Aber ohne es zu merken bin ich eingeschlafen, und als sich aufwachte, wurde mir vom Dreifach-Mord berichtet. Drei Augenpaare für eines, drei Leben für ein Leben. Massachusetts, Fuller, der zu den Kindern predigt, die goldene Regel und die Bergpredigt, praktiziert eine vor-mosaische Tradition. Ich könnte ein dickes Kapitel über diesen kaltblütigen Dreifach-Mord schreiben - und vielleicht werde ich das auch tun.

Aber es ist entweder verrückt oder schamlos von sich zu behaupten, Massachusetts vom Verbrechen befreit zu haben, wenn es nie so brutal und schrecklich zugegangen ist wie jetzt. Direkt nach der Hinrichtung kam es in Mass. zu einer Orgie vom Gewalttaten. Zwei Tage danach wurde in Quincy, Mass., eine Frau von zwei Kindern überfallen, Mädchen im Alter von 12 und 15 Jahren. In Middleboro wurde ein Wachmann von einem Verurteilten enthauptet. Dann war da noch die Schlacht der Entführer. Das ist nur eine kleine Auswahl der vielen Verbrechen jeder Art, die in diesem Staat begangen wurden nach der dreifachen Hinrichtung - innerhalb von 5 Tagen.

Nun, danach meinte jeder, Sacco und Vanzetti werden gehen. Die meisten meiner Mitgefangenen wären froh darüber, und Du hättest sehen sollen, wie sie mich am Tag nach der Hinrichtung angesehen haben. Die Weichherzigen unter ihnen hatten nicht den Mut, mir ins Gesicht zu sehen. Ich glaube, dass Fuller die Umwandlung der ausgeführten Todesurteile an den carbarnischen Mördern und dem Schwarzen deshalb ablehnte, um sich vor unseren Freunden keine Blöße zu geben, wenn sie um seine "Gnade" bitten. Also ging der Schwarze, 1, und die 3 Jungen, Madeiros wird der fünfte sein, Jerry, der Pole, der sechste, dann bin ich dran: insgesamt 8 Männer vernichtet.

Jerry wurde ohne Beweise verurteilt. Zwei Tage später töteten zwei junge Buben einen Lebensmittelhändler und raubten ihn aus. Damit haben wir drei weitere Kandidaten für den elektrischen Stuhl. Jemand meinte, wenn Fuller von unserer Unschuld überzeugt wäre, setzte er sich mit aller Kraft für uns ein. Mir ist klar, dass Fuller nicht überzeugt werden will, und wie kann man jemanden überzeugen, der sich dagegen sträubt? Sie müssen uns töten, um die Würde und Ehre ihres Commonwealth zu bewahren. Nur aus Liebe zu sich selbst, wenn er auch etwas davon hätte, könnte uns Fuller "begnadigen" - wenn nicht, dann nicht.

Das sind meine düsteren Ansichten und Erwartungen. Sollte ich mich irren, bin ich gerne bereit, meine Fehler einzugestehen und zu korrigieren.

Vor zwei Wochen war Genosse Donovan hier und sagte, Du hättest es gerne, wenn ich Dir etwas über meine Mutter schreibe. Nun, ich weiß. Ich fühle mich nicht in der Lage, über meine Mutter zu schreiben, und wäre über alles unzufrieden, was ich zu Papier brächte, selbst wenn ich es im Versmaß eines Dante aufschreiben könnte. Trotzdem möchte ich es tun, für Dich, als Zeichen meiner Wertschätzung für Dich - es wird mein Geschenk zum Neuen Jahr an Dich sein. Ich hoffe, Du nimmst es von Herzen an.

Ich werde mich so kurz fassen, wie ich kann. Allerdings lebte meine Mutter in einer Umgebung, die Du überhaupt nicht kennst, und sie machte in ihrem Leben Erfahrungen, von denen Du - glücklicherweise - verschont geblieben bist. Daher werde ich sehr viel über sie schreiben, um Dir meine Mutter möglichst klar darzustellen.

18. Januar 1927, Gefängnis Charlestown
 
Lieber Genosse Abbott!

Du wirst viel für uns zu tun haben. Wenn der Oberste Gerichtshof, wie ich erwarte, Thayers Urteil wieder bestätigt, sind wir verflucht. Du und alle deine Freunde werden dann viel, viel zu tun haben, um uns zu retten - zu versuchen, uns vor dem größten flammenlosen Feuer des 20. Jahrhunderts zu retten.

4. Februar 1927, Gefängnis Dedham

Lieber Bartolo!

Wieder bin ich hier, gehe diese enge, traurige Zelle auf und ab, während ich versuche, die lieb gewonnen Bilder, die so oft meinen Geist bevölkern, zu deuten. Und ich denke darüber nach, dass sich nach all den langen Jahren der Verfolgung die Zellentür immer noch nicht öffnete, und stattdessen die Stürme unaufhörlich über unsere Köpfe hinwegfegen, einer schlimmer als der andere. Doch zwischen diesen tosenden Wolken führt ein leuchtender Pfad in Richtung Wahrheit, und unter strahlend blauen Himmel erscheint mir ein kleines, geliebtes Heim, wo zwei liebevolle Kinder ihren geliebten Vater suchen und rufen. Und ganz oben sitzt eine gezeichnete und traurige aber junge Mutter, die mit einem warmen und zarten Lächeln auf die Kinder schaut und darauf wartet, ihren teuren Gefährten zu umarmen. Und nicht weit weg sondern ganz nah an dieser lieb gewonnenen Erscheinung, nahe dem Zypressenbaum, wo die Sonne scheint, Dein treues und ehrliches Abbild von gestern. Heute erscheint es mir wie ein Martyrium. Es war nicht die Vision dieses Bildes, ich trage schon seit einigen Tagen den Wunsch in mir, Dir diese Zeilen zu schicken. Also habe ich mich heute zeitig hingesetzt, meinen Stift genommen und diese Zeilen in dem Wissen geschrieben, dass es Dich freuen wird zu erfahren, dass ich nach all den harten Prüfungen noch immer lebe, auch wenn ich nicht weiß, warum, aber ich lebe wie stets trotz der zehrenden Kämpfe. Du siehst, auch wenn ich Dir in den vergangenen Monaten nicht geschrieben habe, habe ich Dich nicht vergessen. Nein, ganz im Gegenteil: ich denke oft an Dich und frage jedes Mal meine Familie und guten Freude und Genossen nach Deiner Gesundheit. ...

Bezüglich unseres Falls habe ich keine Ahnung - die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben uns gezeigt, dass wir uns keine Illusionen machen sollten - doch es ist das Ende des Kampfes; lass uns hoffen, dass es so ist.

Ich habe deine kritische Abhandlung deiner ersten Verhandlung mit großem Interesse gelesen, und sehr genossen. Es ist ein gute Arbeit, die die Geschichte eines niederträchtigen, abgekarteten Spiels beleuchtet, das mit Deinem ersten begann und mit dem zweiten Prozesses endete. ...

9. Februar 1927, Gefängnis Dedham

Meine liebe Freundin Mrs. Henderson!

Seit mir Mrs. Evans in einem ihrer netten Briefe angekündigt hat, dass Sie mich besuchen würden, wartete ich Tag um Tag darauf, aber als der Tag dann kam ... es war zu traurig! Aber dennoch, Sie zusammen mit der Mutter zu sehen und mit Ihnen zu reden war mir eine Freude. Ja, weil Sie, wie all die großartigen, guten Mütter, ihre Herzen öffnen, um den Schmerz ihrer leidenden Mitmenschen aufzunehmen, kaum dass der eigene Schmerz nachließ und der eigene Kampf vorbei ist. Darum brachte mir Ihr willkommener Besuch Freude, denn Sie sind nicht nur eine dieser noblen, guten Mütter, die Leidende sehen und umarmen, sondern Sie haben auch die Stärke, sich Ihre Empfindsamkeit gegenüber Ihren Liebsten und gegenüber den Opfern der Unterdrückung zu bewahren.

Ich erinnere mich, nächstes Monat ist es vier Jahre her, dass meine Kameradin Rosina auch so feinfühlig war - so sehr, dass ihr Tränen über ihr liebliches Gesicht liefen, jedesmal, wenn ich versuchte, ihr mein Leben im Gefängnis zu beschreiben. Aber seit damals, seit meinem Hungerstreik, habe ich ihr nicht mehr von meinen Gefängnisalltag erzählt, um diese geliebte, zerbrechliche Seele nicht leiden zu sehen. ... Erinnern Sie sich, Mrs. Henderson, dass ich Ihnen erzählte, wieviel Ungerechtigkeit und grausame Verfolgung es in dieser freien Gesellschaft gibt - besonders gegenüber den Armen? Ja, es ist nett und edel, als Reicher zuvorkommend und großzügig gegenüber den Ausgebeuteten zu sein, aber das Opfer jener, die nichts haben und ihr Brot mit ihren unterdrückten Mitmenschen teilen, ist noch edler. Verzeihen Sie mir. Mrs. Henderson, ich will Sie, Mrs. Evans und die großherzige Arbeit anderer nicht herabwürdigen oder ignorieren, davor habe ich tiefen, aufrichtigen Respekt. Doch spricht die warme, ehrliche Stimme eines rastlosen Herzens und einer freien Seele, die ihr Leben in der Arbeiterklasse lebte und liebte. ....

 

 

 

 

15. Februar 1927, Gefängnis Charlestown

Liebe Mrs. Evans!

Nun, das war eine schlechte Nachricht.* Doch ich werde kein Mitgefühl zeigen, da Sie mir Leichtigkeit und Zuversicht wünschen, nicht Kummer und Sorgen.
Miss Bloom hatte mir freundlicherweise versichert, dass Sie nicht viel Schmerzen leiden. Ich hoffe, dass das stimmt, und Sie bald wieder ganz gesund sind.
Sie hat mir erzählt, dass Sie Ihr Zimmer mit der schönen Aussicht auf das State House sehr mögen. Das ist schön und erinnert mich daran, dass ich dessen Kuppel von der Kapelle aus sehen kann, wenn ich beim Christian Science Service bin. Bei dem Anblick denke ich jedesmal: "Unter diesem goldenen Dach hatten sie mir einmal das Leben genommen," - und vielleicht ermorden sie mich noch ein weiteres mal.
Ich würde Ihnen jedoch, Mrs. Evans, so gerne Blumen schicken, wenn ich könnte. Gut zu wissen, dass Sie bestimmt Blumen um sich haben.
Bitte verzeihen Sie meine verspätete Antwort. Ich habe täglich mit Mr. Thompson gerechnet, ihn jedoch seit der Besprechung nicht gesehen. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich Ihnen umgehend geschrieben. Jetzt hoffe ich, dass er morgen kommen wird. Auch arbeite ich intensiv an der italienischen Übersetzung des späteren Berufungsantrags. Aber in Gedanken bin ich oft bei und mit Ihnen, liebe Mrs. Evans.
Bestimmt haben Sie von den weisen Indern gelesen; über ihr feinsinniges und fremdartiges Wissen und ihre Philosophie. Also versuchen Sie sich darin, indem Sie Ihre erzwungene Tatenlosigkeit als wohl verdiente Ruhepause für Geist, Seele und Körper nutzen.
Ich hoffe, bald gute Neuigkeiten von Ihnen zu hören, und sende Ihnen in diesen Erwartungen ein Meer guter Wünsche, Grüße und Wertschätzung.

* Mrs. Evans brach sich Anfang des Monats den Knöchel.

 
22. Februar 1927. Gefängnis Dedham

Liebe Miss Bloom,*

ich kenne Sie nicht persönlich, doch hat Mrs. Evans stets von Ihnen erzählt, und es war mir dabei unmöglich, Ihre gute Seele zu ignorieren. Sie verdienen es, von Mrs. Evans geliebt zu werden, und ich glaube fest, dass sie Sie liebt.

Ich würde Ihnen viel mehr schreiben, doch die traurige Seele dieses Lebens, so weit weg vom Leben und von all meinen Liebsten, hat all meine freundlichen und menschlichen Ideen davon getragen. Dennoch danke ich Ihnen für Ihre ununterbrochene Gunst mir gegenüber und dass Sie so gütig zu Mrs. Evans sind.

Deshalb würden Sie noch einmal so gut sein, Miss Bloom, die Nachricht Mrs. Evans überbringen, die Sie anbei finden. Und ich bin sicher, dass Sie bei Ihren weiteren Besuchen bei Mrs. Evans ihr stets meine besten Wünsche ausrichten, auch wenn Sie ihr keinen Brief überbringen.

* Anna Bloom, Sekretärin von Mrs. Evans

   
3. März 1927. Gefängnis Dedham

Teure Freundin Mrs. Winslow,*

der unerwartete Besuch, den Sie und Mrs. Codman** mir gütig schenkten, obwohl wir uns gestern zum ersten Mal persönlich begegneten, war mir sehr willkommen.

Unser Gespräch war eher kurz als lang, und doch, die Beschreibung der Weinberge, die Erinnerung an meine Jugend, an die gute Seele meiner armen, alten Mutter und der Familie, die ich liebte, all das ließ mich das heutige so traurige Leben wieder genießen. Außerdem hat diese Erinnerung an die edle Mutterseele die Freude in mir erneuert, hier eine weitere gütige erfahrene Mutter gefunden zu haben, die in dem langen Kampf der vergangenen Jahre stets bei mir und dem Leiden meiner Familie war. Ich habe Ihren lieben Brief neulich bekommen und war erfreut zu erfahren, dass Ihnen der Besuch sehr gefallen hat und dass Mrs. Evans auf dem Weg der Besserung ist. Deshalb möchte ich mich für Ihre lieben Worte und brüderliche Solidarität bedanken, die Sie unserem Fall entgegen bringen, und auch für die gute Nachricht, die Sie von Mrs. Evans überbracht haben.

Ja, ich habe den Artikel von Prof. Frankfurter im Atlantic Monthly aufmerksam gelesen. Nach der Bitterkeit auf diesem langen Weg der letzten Jahre, habe ich es sehr genossen, wie ein fachkundiger Redner nach und nach dieses ganze abgekartete Spiel und die falschen Zeugen demontiert, die versucht haben, uns direkt auf den elektrischen Stuhl zu schicken. Es ist der ehrliche Funken des Lichts, der für immer in die künftigen Geschichte scheinen wird, zusammen mit dem Antrag, den Mr. Thompson vor einem Jahr geschrieben hat.


*Mrs. Gertude L. Winslow von Boston, die sich ernsthaft für Sacco und Vanzetti einsetzte
** Mrs. E. A. Codman von Boston, eine Weitere, die an die Unschuld Sacco und Vanzetti glaubte
 
 
   

16. März 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Evans,

das Leben ist traurig an dieser Wegkreuzung, so traurig wie es nur für eine liebliche Mutter sein kann, die die zärtliche Aufmerksamkeit ihres geliebten Kameraden missen muss. Seit so langer Zeit fühle ich in meiner Seele diesen verzehrend leidenschaftlichen Wunsch, endlich das Ende dieses grauenhaften Falles zu erleben.
Doch dieser Morgen ist schön, und er warme Strahl der Sonne streichelt mein Herz, während mein Geist durch dieses traurigen Gitterstäbe hin zum Bild meiner guten, alten, lieben Mutter wandert.

Ich habe Ihren Brief vom 8. März erhalten und die gute Nachricht, dass Sie fast gesünder wieder zu Hause sind, hat mich sehr gefreut und munterte mich noch mehr auf, wäre da nicht ebenfalls ein Brief von meiner lieben, armen Rosina, in dem sie mir von ihrer schlimmen Krankheit erzählt, die sie einen ganzen Monat ans Krankenhausbett fesselt. Sie können sich wohl vorstellen, wie traurig und verbittert sich diese Seele heute anfühlt. ...
   
23. März 1927. Gefängnis Charlestown

Liebe Freundin Mrs. Codman!*

Ich habe Ihren höchst willkommenen Brief vom 10. März erhalten. Es war sehr nett von Ihnen, mir einen solch höflichen Brief zu schreiben und mich über den Zustand von unserer lieben Mrs. Evans zu informieren. Unlängst erhielt ich einen Brief von ihr - meine Antwort erhält sie zur gleichen Zeit wie Sie. Ich hoffe, ihre Genesung geht voran und ist geduldig. ...

Ich bin froh, Sie und Mrs. Winslow persönlich kennengelernt zu haben und Sie beide mir alles andere als unsympathisch waren; Ihre Besuche sind mir stets eine Freude.
Ja, Mrs. Codman, es wäre weit besser gewesen, hätte Nick gearbeitet. Wie Sie wissen, lehne ich es manchmal ab für den Profit und die Bequemlichkeit von Leuten zu arbeiten, die mir einen solchen Handel anbieten. Sie verdienten meist eher, den Karren zu ziehen als ihr Automobil zu lenken.
Dennoch füge ich mich den Regeln und vernünftiger Leitung, denn für meine Wenigkeit ist Arbeit immer noch besser als Müßiggang.

Sie bewundern unsere Geduld und Courage! Nun, ein wenig Bewunderung genieße ich durchaus - vielleicht, weil mir so viel Schlechtes nachgesagt wird. Doch, Mrs. Codman, nach meinem Verständnis ist das Sein höher einzuordnen als mein Leben. Ich existiere nicht, weil ich es wollte oder wünschte, sondern weil ich durch eine transzendentale Kraft - welche auch immer - ins Sein gebracht wurde.
Wollen? Nun, zu wollen ist ebenfalls ein Zustand. Ich und viele, die ich kannte, waren schon in einem Zustand, in dem ihr Wille vorübergehend oder für immer zerstört war.
Seinem Willen zu folgen ist genauso ein Zustand, in dem ich mich und andere oft erlebt habe.
Was ich sagen will, ist: Sogar wenn wir wirklich geduldig und mutig wären, verdankten wir das eher unserem Glück als unserer Leistung.

Bitte drücken Sie Mr. Codman meine Dankbarkeit dafür aus, dass er sich so gut um Mrs. Evans kümmert. 

* Mrs. E. A. Codman aus Boston, Massachusetts.

 
 
   

24. März 1927, Gefängnis Charlestown

Treuer Genosse Abbott,

... Mir wurde berichtet, dass die Agitation in Europa und Südamerika breit und stark ist. Es scheint auch, dass unsere amerikanischen Freunde - oder Freunde in Amerika - willens sind, die Welt der schnöden Worte und gewohnten Zeremonien zu verlassen und wirksam in Aktion zu treten. Es ist an der Zeit, denn wenn hier nur die Hälfte dessen getan worden wäre, was in fast jedem anderem Land geschehen ist, wären wir frei und könnten für die Freilassung anderer Häftlinge und die Freiheit aller arbeiten.

Du hast ja so recht, guter Freund: Worte, Worte allein, zu viele Worte sind zu oft ein lächerlicher Anachronismus, eine Schmach und eine Schande. Aber was kann man machen gegen eine Mauer gebaut aus ... ach, denk Dir eine passende Metapher.

In einem solchen Rahmen sind Wörter kein Echo auf Taten - erst die Taten, dann die Gedanken -, sondern Ausdruck des Wollens und des Willens. Dann sind Wörter nichts als leere Stimmen, um hohles Bewusstsein zu verhüllen, Echos, Vortäuschungen des Wollens und der Nichtigkeit. [...] Schweigen mag dann eloquenter sein.

Was den Antrag betrifft, so habe ich stets eine Ablehnung durch die sieben Höchstgerichte von Massachusetts erwartet. Wie die Sache künstlich hinausgezögert wird, lässt mich Böses erahnen - aber freilich könnte und würde ich gerne falsch liegen.

Mr. Thompson kämpfte und kämpft tapfer und gekonnt für unsere Verteidigung; seine Mitarbeiter ebenso. Sie haben schier Wunder vollbracht, viele Sympathien gewonnen, und Eisberge der Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zum Schmelzen gebracht.

Und doch wissen wir, dass in Fällen wie dem unseren Rechtmäßigkeit allein nicht ausreicht.
Mr. Thompson legte den Fall vor dem Obersten Gerichtshof auf so vollkommene Weise dar - die Richter könnten uns jetzt Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn sie es denn wollten. ...

Lehnen sie den Antrag ab, wäre das der Beweis, dass sie ihr Gewissen, ihren Verstand und ihren Willen verkauften, sich der ausdrücklichen Order einer unsichtbaren und transzendentalen Herrschaft beugen - der Plutokratie. Die würde alles rechtfertigen.

Bleib dennoch im Herzen tapfer, Genosse Abbott, e, salute.
 
 
   

25. März 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin Mrs. Jack,

die Nelken sind immer wieder wunderbar und erfreuen mein Herz. Ich möchte mich immer wieder für die sanfte Feinfühligkeit bedanken, die Sie mir und meiner Familie zukommen lassen. Nun kam Rosina zusammen mit Ines am Freitag endlich hierher, um mich zu besuchen. Aber es war für mich so schlimm, meine arme Kameradin so niedergeschlagen zu erleben wie nie zuvor in diesen grausam langen Jahren des Kampfes. Darüber habe ich vergessen, es Ines zu geben. Aber ich sende es ihr heute per Post. So hoffe ich, mehr als alles andere, aus tiefsten Herzen, dass dieser monströse Fall rasch sein Ende findet.
 
 
   

29. März 1927, Gefängnis Charlestown

Lieber Freund Benton,

Danke für das schöne Büchlein Flowers of Resurrection (Blumen der Auferstehung); doch noch mehr Dank für Deine freundlichen Worte, für Deine Sympathie und Gedanken an mich. Oft schaue ich auf die schönen Blumen, die Schmetterlinge, die Knospen, das Laub und die Vögel mit wachsender Euphorie. Die Betrachtung von der Schönheit der Natur, die Meditation über die Wunder und Mysterien der Natur, davon nährt sich meine Lebensfreude wie von nichts sonst.

Die mir liebste Manifestation der Natur ist die Menschheit in all ihrem Elend und ihrem Stolz, ihrer Glorie und Schande, ihrer Unbedeutsamkeit und ihrer Großartigkeit. Du magst also verstehen, wieviel mir menschliche Solidarität bedeutet - besonders jetzt, da ich jeden materiellen Wohlstand entbehre - und welch Dankbarkeit ich jenen gegenüber empfinde, die mich mit ihrer Güte unterstützen.

Mit Freude habe ich erfahren, dass Du auf dem Land lebst; das bewundere ich. Ich mag die Einsamkeit. Ich mag die Naturgewalten. Im Freien zu leben, unter der Sonne und dem blauen Himmel, war stets ein Traum von mir.

Meine Genossen schätze ich zutiefst, und an Dich erinnere ich mich aus vielen Gründen. Wie Schade, dass man sich nicht öfter und intensiver schreiben kann. Wir arbeiten sechs Tage in der Woche. Drei Abende in der Woche besuche ich den Unterricht. Denk daran, dass mir Deine Worte stets ein willkommener Segen sind. Meine herzlichen Grüße an Dich und alle Deine Brötchengeber.
 
 
   
1. April 1927, Gefängnis Dedham

Lieber Abott,

das Leben hier ist so monoton und traurig, fern von der lebendigen Freiheit, von den Menschen und all den Freunden und Genossen, die wir und die uns lieben. Doch heute erwärmt der Frühlings-Sonnenstrahl des April die unterdrückte, gefallene Seele, während mir nach und nach all die herzlichen Erinnerungen an meine Liebsten und die schönen Besuche, die mir meine guten Freunde und Kameraden abstatteten, lebendig im Bewusstein erscheinen. Ich will heute keinesfalls versäumen, ihnen Grüße und Gedanken zu senden. Deinen willkommenen Brief vom 8. März habe ich erhalten, und ich danke Dir so sehr, dass Du so freundlich an mich denkst.

Ich verstehe, dass Du ein sehr geschäftiger Mann bist, der überall gefragt ist, und Dich daher für Dein langes Schweigen bei mir nicht zu entschuldigen brauchst. Denn, im Gegenteil: Du, der Lehrer war und das Wesen des Gefängnisses verstehst, wirst mir vergeben, dass ich Deine Briefe erst jetzt beantworte. ... Was mich betrifft, bleibt mir nichts als die Liebe zum Glauben, der mir in all den schrecklich langen Jahren des Kampfes Mut und Stärke gegeben hat. Heute und gestern bin ich Stolz auf die Liebe zu diesem Glauben. ...

Übrigens habe ich auch das Pamphlet gelesen, dass Genosse John Dos Passos für das Sacco-Vanzetti-Verteidigungskomitee geschrieben hat. Facing the Chair (Im Angesicht des Stuhles) ist eine gutes, kluges Werk, dass all die Geister der intelligenten Menschen und jener der klein-geistigen mit [...] Vorurteilen erwecken wird.
 
 
   
3. April 1927, Gefängnis Charlestown

Liebe Mrs. Winslow,*

Ihr Brief vom 1. April hat mich gestern abend erreicht und war höchst willkommen. Als Sie und Mrs. Codman anriefen, war ich vielleicht mehr verbittert als traurig, doch erschien ich wohl mehr traurig als verbittert, denn das Beste meines Lebens wurde längst aus mir herausgequetscht und in mir zerbrochen, sodass mir die vitale Kraft fehlt, angemessen nach Außen zu bringen, was mich im tiefsten Innersten bewegt. Ein wenig mehr quetschen und brechen, und ich werde so süß und sanft, dass ich nicht einmal mehr bei meiner Autopsie zu finden bin.** Wenn der Oberste Gerichtshof von Massachusetts meine Befürchtungen wahr macht und eine neue Verhandlung ablehnt, wird genau das passieren.

Beim nächsten Antrag wird es dann mindestens sechs Monate dauern, bis sie von den Obersten Gerichtshöfen abgelehnt werden - so war es auch bei den bisherigen. Danach werden Sie und andere amerikanische Freunde versuchen, bei unseren Mördern durch deren Gnade das zu erreichen, was durch Argumente, Beweise und Gerechtigkeit nicht erreicht worden ist. Ich scheute freilich nicht, einen Irrtum einzugestehen und für meine Fehleinschätzung um Entschuldigung zu bitten - meine "temporären Urteile", wie sie die Katholische Kirche nennt.

Unterdessen, fürchte ich, werden sie Rosy noch vor Nick und mir töten - und meinen Vater vielleicht auch.

Es hört sich so an, als ob Mrs. Codman und Sie uns für weise oder gebildete Männer hielten. Ich muss zugeben, dass ich geglaubt hatte, viel zu wissen, und sogar jetzt denke ich, meiner Bescheidenheit zum Trotz, gewisse grundlegende, elemtare Wahrheiten verstanden zu haben - Wahrheiten, so einfach, dass sie jeder wissen sollte - was aber nicht der Fall ist.

Themen des menschlichen Seins und einer Revolution, wie wir sie bei unserem letzten Gespräch erwähnten, übersteigen tatsächlich den menschlichen Verstand. Was ist mit Objektivität? Hätte ich dafür Zeit und Energie, wie gern würde ich ein Essay schreiben, um das Thema zu definieren und die jüngsten Missverständnisse darüber aufzuklären.

Seit einem Viertel Jahrhundert kämpfe ich darum, zu verlernen und neu zu lernen; den Glauben zu verlieren und wieder zu finden; abzulehnen und neu zu bestätigen. Durch wenig Schule und sehr viel Erfahrung (gut und richtig verstanden) wurde ich zu einem kosmopolitischen, wandernden Philosphen der Straße, zerstörte, verbrannte die Welt in mir, um eine neue, bessere zu erschaffen. Inzwischen lebe ich in der schlechtesten der schlechten. Doch hörte ich auf mit meinen Späßen und begönne ich mit ernsthaften Gedanken, erschreckte ich nicht nur Sie, sondern auch mich.

Ihre Besuch und Ihr Brief waren eine Wonne. ...
 

* Mrs. Getrude L. Winslow aus Boston, Mass.
** Anm. des Übersetzers: Die zwei Sätze sind besonders frei übersetzt und lesen sich im Original so: "[...] I lack sufficient vital force to bring to the superfices what there is in my deepnesses. Another little bit of squasching and of crushing and I will become so sweet and suave to not even demonstrate at my autopsy."

 
   
6. April 1927, Gefängnis Charlestown

Liebe Mrs. Winslow,

meine Worte wurden wahr* - und dafür brauchte ich weder Prophet noch Sohn eines Propheten sein. Nun bin ich in einer Zelle des Cherry-Hill-Flügels untergebracht, einem Vorzimmer zum Hinrichtungshaus [Death House, Anm.], und warte auf mein dunkles Schicksal. Nächsten Samstag werden wir verurteilt; unsere Hinrichtung wird so bald wie möglich folgen, denn wie Mr. Wilbar** vor ein paar Monaten öffentlich verkündete, "je schneller Sacco Vanzetti der absoluten Gerechtigkeit zugefügt werden, desto eher endet die Agitation."

Werden seine Worte oder die Ihren aus Ihrem letzten Brief wahr werden? Ich würde gern, doch kann mir keine weiteren Illusionen über den Ausgang des Falles und über die Besiegelung meines Schicksals machen. Doch möchte ich Ihnen in dieser dunklen Stunde meine und Nicks Dankbarkeit für Ihre Güte uns gegenüber ausdrücken. Seien Sie tapfer und gefasst.

* Am 5. April bestätigte der Oberste Gerichtshof die Ablehnung des Antrags auf Wiederholung des Verfahrens; bei Richter Thayers Entscheidung konnte es "keinen Fehler" fnden.
** W.M. Wilbar, Staatsanwalt von Norfolk und Plymouth Counties, Nachfolger von Fred G. Katzmann.

 
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6. April 1927, Gefängnis Charlestown

Liebe Genossin Blackwell,

... Die letzte Zeit war ich mit dringenden Schreibarbeiten ausgelastet und hatte daher keine Zeit, "My Mother Memories" (Erinnerungen an meine Mutter) für Dich zu beenden. Ich wollte etwas ihr und Dir Würdiges schaffen, von Nutzen für die Menschheit. Doch die Ereignisse überschlagen sich. Nächsten Samstag werde ich schlußendlich zum Tode verurteilt, und ich gehe davon aus, dass wir so bald wie möglich hingerichtet werden, um die Agitation zu stoppen - wie Mr. Wilbur netterweise vor ein paar Monaten öffentlich verlautbaren ließ. Darum werde ich höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein, über meine Mutter zu schreiben, doch sende ich Dir die bisherigen Notizen. Bleib stark im Herzen, liebe Genossin Blackwell. Mit Zuneigung und vielen Grüßen, auch an Deinen Cousin.
 
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6. April 1927, Gefängnis Charlestown

Liebe Mrs. Evans,

ihr freundlicher Brief hat mich gerade eben erreicht. Ja, was unsere Leben und Freiheit betrifft, war alles umsonst. Ich bin jetzt in einer Zelle im Cherry-Hill-Flügel untergebracht, das Vorzimmer zum Hinrichtungshaus [Death House, Anm.], und warte auf mein Schicksal. Wie Wilbur vor einigen Monaten öffentlich sagte, werden die Proteste aufhören, je schneller Sacco und Vanzetti der ultimativen Gerechtigkeit (!??!!) zugeführt werden. Ich mache mir keine Illusionen.

Doch die Solidarität und Generösität von Ihnen, unseren Genossen und Freunden gehen als wundervoller Paragraph in die Geschichte ein. Es hat uns geholfen und wird andere retten - es wird niemals umsonst gewesen sein.

Seien Sie geduldig und tapfer, Genossin Evans; ich sende Ihnen meine besten Wünsche und meine Wertschätzung.

 
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7. April 1927, Gefängnis Charlestown

Lieber Genosse Donovan,

sei bitte gefasst und stark im Herzen. Lass dich nicht von Missmut unterkriegen. Ich hoffe, Dich bald zu sehen.
 
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7. April 1927, Gefängnis Charlestown

Liebe Mrs. Codman,

die schlimmen Erwartungen haben sich erfüllt: Einmal mehr hat der Oberste Gerichtshof negativ entschieden. Das scheint nun unser Schicksal zu besiegeln: Consumatus est.

Ich weiß, dass Sie und viele andere Gönner Hoffnungen in den Gouverneur setzen - doch ich kann Ihnen keine weiteren Hoffnungen vorspielen. Wir sind verloren. Auf uns wartet der Stuhl oder lebenslange Haft. Nach sieben Jahren des Kampfes, voll unbeschreiblicher Qual,  Tränen und Pein, sitze ich nun in der Vorkammer des Hinrichtungshauses - in einer Cherry-Hill-Zelle.

Könnte ich nur all meine Dankbarkeit für all das ausdrücken, was Sie für uns getan haben und immer noch tun. Bitte lassen Sie auch Mr. Codman innigst grüßen.
 
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11. April 1927, Gefängnins Dedham

Liebe Genossin Mary [Donovan],

kurz bevor es zum Gericht ging, habe ich Deinen Brief gelesen, doch als ich dort ankam, konnte ich Dich nicht entdecken. Nein, über Deine Abwesenheit habe ich mich nicht gewundert; höchtwahrscheinlich wurde Dir der Zugang nicht gestattet. ...

Eben waren Rosa und Mrs. Evans hier. Sie brachten uns schöne Rosenblüten, Blumensträuße, Früchte und Kuchen. Sie durften je eine halbe Stunde mit jedem von uns reden. Vielleicht wirst auch Du eher zugelassen als Du denkst. ... Und bitte, wenn Du kommt, belaste Dich nicht mit Geschenken oder ähnlichem. Wir haben mehr, als wir brauchen. ...

Sei so tapfer und stark wie Du kannst. Ich weiß, die Situation ist unbeschreiblich hart und grausam, doch musst Du tapfer sein. Darum beruhige Herz und Verstand, lass Dich nicht überwältigen von Trauer und Verzweiflung, und komme gesund vor das Gericht. Wir werden sehen, was wir erreichen können. Versuche also jetzt, ruhig zu bleiben, bewahre Deine Gesundheit und Lebensfreude, um für die Prüfung bereit zu sein.

In gewisser Weise geht es mir hier besser. Es gibt mehr Licht und Luft, und wir, Nick und ich, dürfen täglich zusammen in den Gefängnishof. Und mir geht es ganz gut. Lass Dich nicht aufreiben von dem Gedanken, wie sehr ich leide, denn ich leide nicht, und es würde mir helfen zu wissen, dass Du nicht meinetwegen verzweifelst und leidest. Denn ich weiß, dass all dies für Dich noch schlimmer ist als für mich. Es gibt keinen Zweifel: Sie wollen uns brennen sehen, aber noch sind wir roh und "noch nicht durch", wie Du selbst sagst. Also, liebe Genossin, sei tapfer, ruhig, verzweifle nicht, und versuche so gesund wie möglich zu bleiben, denn ich werde es erfahren und es wird mir so sehr helfen.

 
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13. April 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin Mrs. Winslow,

Nur kurz, um Ihnen mitzuteilen, dass mir Ihr Brief vom 11. sehr lieb und wert gewesen ist.
Ja, ja, ich hatte das, was ich letzten Samstag sagte*, seit gefühlten Ewigkeiten in meinem Herzen aufbewahrt. Und doch war es nur ein Bruchteil - ich hätte Tage lang sprechen können.

Ihre Worte sind klug und vernünftig, doch ist unser Fall außergewöhnlich, und die Hoffnung fehlt mir nach wie vor. Würde etwas anderes geschehen als was ich erwarte, wäre das der Verdienst von Ihnen und all unserer Freunde.

PS 15. April 1927

Liebe Mrs. Winslow, ich bitte Sie inständig Mrs. Codman mitzuteilen, dass mich ihr freundlicher Brief diesen Morgen eben erreicht hat. Möge der glühende Himmel und die leuchtende Erde sie beide, in der Glorie dieses wunderbaren Morgens, für mich grüßen.

* Am Samstag, 9. April 1927 wurden Sacco und Vanzetti im Gericht in Dedham durch Richter Thayer zum Tode verurteilt. Vanzetti durfte davor Stellung nehmen und hielt eine leidenschaftliche, rund 45 minütige Rede.

 
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14. April 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Genossin Mary [Donovan],

heute habe ich geschrieben, geschrieben und geschrieben, die ganze Zeit über. Nun ist es spät und bin müde. Dennoch kann ich nicht anders als Dir zu schreiben. ...

Was ich Dir sagen will, schon wieder und immer wieder: sei tapfer, ruhig und kontrolliert. Ja, nur das, und dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich weiß, dass Du Deine Stelle verloren hast.* Wieder eines dieser netten Dinge. Jetzt arbeitest Du Tag und Nacht, um Nick und mich zu retten. Vergiss nicht, dass Du auch ruhen musst, und ruhe Dich wenigstens nur der Notwendigkeit halber aus. Machs gut, ich sende die besten Wünsche, auch von Nick.

* Mary Donovan verlor im März 1927 ihre Stelle als Industrie-Inspektorin in der Abteilung für Arbeit und Industrie in Massachusetts.
 
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18. April 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin Mrs. Cerise Jack,

... Unlängst erhielt ich die Blumen und Grüße von Ihnen und Ihrer lieben Betty, und Blumen und Grüße sind mir wichtig und wunderbar. Ihre Blumen habe ich in ein Glas mit frischem Wasser über meinem Fenster gegeben, und sie sind noch immer beglückend schön. Und Ihre lebendigen Worte wahre ich in meinem lebendigen Herzen auf, hege sie mit dem rotesten Blut und den weißesten Blüten meiner Seele.

PS: Ich glaube, Sie versuchten eine Besuchs-Genehmigung zu bekommen und wurden abgelehnt. Doch was Sie erreichten, bleibt unvergessen. Ich grüße und Danke Ihnen erneut, mit besten Hoffnungen.

 
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19. April 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Evans,

ich habe viel an Sie gedacht und schreiben nun ein paar Worte. Ihre Blumen (plant-flowers) sind einfach großartig; die Geranien gehen wieder auf und stehen in voller Blüte. Die Mai-Blumen verbrauchen sehr viel Wasser, habe ich bemerkt; sitze ich lesend am Fenster, fühle ich mich wie im Garten. Liebe Mrs. Evans, Sie sind zu gut zu uns. Es würde mich nicht wundern, tobten unsere Feinde über Ihre Wohltätigkeit. Wo ich daran denke, bitte, bringen Sie uns nicht zuviel, nur ein wenig Früchte - doch nicht so viel wie zuletzt, wenn Sie so freundlich wären.

Ich danke Ihnen und grüße Sie aus tiefsten Herzen.

 
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19. April 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Winslow,

oh! Ihre Maiblumen sind wunderbar und schön und allerherzlichst willkommen. Sie erinnern mich an Plymouth und die Wälder; Wälder, die ich so sehr liebe. Es sind die Blumen des Waldes. Haben Sie vielen Dank.
Wie dumm und ungerecht, Ihnen den Besuch nicht zu gestatten. Es scheint mir unglaublich. Es tat mir leid für mich und für Sie. Hoffen wir, dass ich Sie noch einmal sehen werde, bevor ich sterbe.

Bis dahin wünsche ich Ihnen viel Tapferkeit im Herzen, liebe Mrs. Winslow.
 
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25. April 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin [Mrs. Virginia MacMechan],

schon bevor ich Ihren freundlichen, letzten Brief gelesen habe war mir Ihre Mühen bewusst, mich zu erreichen - und dass diese vergebens waren. Und schon davor habe ich daran gedacht, Mr. Thomposn zu bitten, Sie mitzunehmen. Ich werde es noch nachholen; außerdem muß sich Mr. Thompson um lebenswichtige Aufgaben kümmern und kommt nur bei wichtigen Ausnahmefällen hierher und brachte meist jemand anderen - entweder, um ihn mit uns bekannt zu machen oder um die Verteidigung zu besprechen. Ihn unter diesen Umständen zu begleiten wäre besser als gar nichts, doch hätte ich kaum Zeit für Augenkontakt oder ein Gespräch mit Ihnen. Nur Rosy und Mrs. Evans dürfen alleine kommen. Möglicherweise kann Mrs. Evans diese Woche nicht, und wenn es der Herr Sheriff jemand anderen an ihrer Stelle gestattet, wäre es gut, wenn nicht, nun, dann müsste man es eben hinnehmen. Ich werde jedoch mein Bestes tun, um Ihren Besuch zu ermöglichen.

Ich bin froh, wie Sie über mein Gnadengesuch denken. Wir verweigerten sogleich, das reguläre Papier zur Einbringung des Gnadengesuches zu unterzeichnen, aus den Gründen, die Sie anführen. Seitdem Mr. Thompson sagte, ohne unsere Petition nichts machen zu können, bemühen wir uns um eine spezielle Form dieser Petition. Vor einigen Tagen wurde sie stenographiert und vereinbart, dass wir sie noch nach unseren Wünschen korrigieren und ändern können. Bis jetzt haben wir noch keinen Abzug erhalten; ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Uns wurde jedoch erklärt, dass "Gnade" in diesem Fall nicht "Vergebung der Schuld" bedeutet, weil diese Gnade auf allem möglichen gründen kann, "Justizmissbrauch" genauso wie "Unschuld" - und ein fest installiertes Werkzeug der Verantwortlichen ist, um richterliche Irrtümer und Fehler zu korrigieren. Trotzdem wollten wir ein spezielles Ersuchen. ... Wie auch immer, noch weiß ich nicht, wie wir damit umgehen werden. Doch bin ich überzeugt: Egal, was wir tun und ob wir es tun, es wird letztlich nicht das Kleinste am Ausgang des Falles ändern. Ob sich die Mächtigen für oder gegen uns entscheiden - die wenigsten Überlegungen werden sich dabei um uns drehen; sie machen sich nur Gedanken um andere und sich selbst.

In einem Anfall von Prahlerei sage ich: Voltaire war brillant und exakt, doch ich werde in meinem Gesuch noch tiefer gehen.

Ja, meine liebe Freundin, ich darf hier rauchen, und ich rauche wie ein Türke. Früchte und Süßigkeiten sind erlaubt, und wir haben Früchte. Mein Fenster ist bevölkert mit Aufmerksamkeiten, ein wildes Durcheinander von strahlenden Farben und schönen Formen: Eine Geranie und eine Tulpe, beide Topffplanzen von Mrs. Evans. Weiße Blumen, rosa Nelken, rosarote Pfirsichblüten und gelbe Blumen von Mrs. Jack, sowie ein Bouquet aus Mai-Blumen von Mrs. Winslow. Wie ich weiß, würden Sie mir auch gerne etwas schicken, und ich würde es mit Freude empfangen. Doch mag ich keine Süßigkeiten; Tabak kann ich kaufen; bitte senden Sie uns keine Früchte, davon haben wir im Übermaß. Schicken Sie mir am besten ein paar Blumen, das wäre schön, am liebsten Mai-Blumen, wenn das in Rahmen Ihrer Möglichkeiten ist. ...

 
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25. April 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin Mrs. Winslow,

ich halte Ihren lieben Brief in Händen. Nur kann ich leider Ihren Optimismus nicht teilen. Zu oft bin ich enttäuscht und eines Besseren belehrt worden: Dem feinen Gehabe der Verantwortungsträger kann ich nicht länger trauen - ich misstraue ihnen. Ich halte sie für Heuchler, die uns im Herzen längst verdammt haben aus Hass auf meine Vergangenheit und meine Person. Ich misstraue der Exekutive genauso, wie ich - richtigerweise - stets der Justiz misstraute.

Ein Großteil der Menschen, der vernünftigen Menschen, ist auf unserer Seite - das ist wohl wahr. Doch die Gegenmacht ist mehr denn je gegen uns. Wenn ich für zwei Verbrechen, die ich niemals begangen habe, verurteilt wurde, warum sollte die Exekutive anders handeln als die Judikative? Trotz und durch jede wie immer gearteten Formalität? Der Gouverneur wird niemals eine Untersuchungskommission einsetzen. Es bedeutete Freiheit - und die Leute der Judikative und der Exekutive wollen durch unsere Verdammung Amerika schützen. Weil sie zwar mächtig, aber nicht übermächtig sind, werden sie alles tun, was möglich ist. Ein Leben in ewiger Gegangenschaft macht mir Angst. Wenn Sie Recht behalten sollten, werde ich mein Leben irgendeiner Kirche widmen, öffentlich meine Fehler bekennen, und Sie und alle anderen um Vergebung bitten. ...
 
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26. April 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin Mrs. Codman,

es ist depremierend, nun verdammt zu sein und auf den Elektrischen Stuhl zu warten, nachdem wir sieben lange Jahre abgeschottet in diesem Zellenloch hinter kalten Gittern Gerechtigkeit erhofften. Es ist eine Schande vor den Gesetzen Massachusetts, die US-amerikanische Tradition der Freiheit derart mit Füßen zu treten. Wir sind jedoch noch immer am Leben, und wir können mit unseren Augen nach oben und nach unten schauen; wir sehen den Frühling stets lebhafter und blühender kommen und die Blumen immer schön und frei wachsen. Während der Duft der Schönheit sich lieblich von der Erde erhebt, erscheinen mir wohlig, nach und nach, all die Erinnerungen an meine Lieben und die alten und neuen Freunde und Genossen.

Letzte Woche traf ich Mrs. Evans zusammen mit meinen Kameraden, und sie spricht ständig über Sie und Mrs. Winslow - ich schätze Ihre und Mrs. Winslows Güte und Zuwendung ungemein, die Sie beide unserem Fall und meiner Familie zukommen lassen.

Bitte bestellen Sie meine besten Wünsche an alle, an Mrs. Winslow und besonders an Ihren Arzt - den mir Mrs. Evans als klugen, aufrichtigen Mann beschrieben hat. ...
 
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Strahlender Morgen
27. April 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Genossin Mary Donovan,

ich weiß, dass Du Dich wegen uns verausgabst - doch da Dein letzter Brief recht lange zurückliegt, fürchte ich, dass Sendungen von Dir verloren gegangen sind. ...

Es wurde uns gestattet, täglich eine La Notizia und ein Il Corriere zu erhalten, als auch Zeitungsausschnitte aus dem Herald zum Fall oder die ganze Ausgabe. Ich verfolge die Nachrichten begierig, und Dein Name taucht fast täglich auf. Es ist schwieriger, für uns eine Halle in Boston zu finden als in der Sahara! Was meinst Du? Das ist eloquent.

Tatsächlich sind die Proteste der Intellektuellen und des Mittelstandes und der Prominenten und der Geistlichen größer als ich erwartete. Sie scheinen mir noch aktiver als die Proteste der Proletarier und Gewerkschafter.

Über unser Gesuch an den Gouverneur brauche ich Dir nichts zu erzählen; darüber weißt Du alles. ... Ich bin zutiefst überzeugt: Was wir auch unternehmen oder sein lassen, es wird an dem Ergebnis nicht das kleinste Bisschen ändern. Der Exekutive kümmern unser Taten oder Nicht-Taten gleich Null. Doch wenn ich alles bedenke, würde ich es unterzeichnen, wenn es so ist wie ich es aufsetzten würde: wie eine feine anarchistische Rede. Aber Nicola scheint fest entschlossen, kein Gnadengesuch zu unterschreiben, egal, wie es aussieht. Einige seiner Gründe dafür sind falsch, andere einseitig oder kleingeistig oder intolerant. Er meint, wenn wir ein Gnadengesuch unterzeichneten, würde die Agitation sofort verstummen; die Exekutive würde uns an der Nase herumführen wie es die Judikative tat, um uns dann alles abzuschlagen, und dann sollen wir einen weiteren Einspruch unterzeichnen und unser Fall nimmt kein Ende. Das könnte so sein, doch scheint dies der letzt-mögliche Einspruch zu sein. Ich glaube aber, dass er in Wahrheit glaubt, dass mit dem Abschluss des Falles die Dinge in Gang und wir frei kommen. Eine bequeme Vorstellung, die ich nicht teilen kann. Er zieht eine öffentliche Erklärung unsererseits vor, was ganz vernünftig ist. Nur ist bei allen Meinungen und Differenzen eines klar: Antrag oder nicht, Exekutive und Judikative können machen, was sie wollen.

Inzwischen hat sich meine Erwartung bestätigt. Der Gouverneur wird die geforderte Untersuchtungskommission nicht einsetzen.* Sondern den Fall selbst untersuchen. Was eine Menge oder Nichts oder etwas ganz anderes bedeuten kann, vor allem aber klar macht, dass der Gouverneur jede Entscheidung nach belieben rechtfertigen kann, weil es so keine handfesten Beweise, Widersprüche oder Einsprüche geben kann. Bei einem Bericht einer kompetenten Kommission wäre das was anderes. Um sie zu bekommen, müssen wir darum alles unternehmen. Und dennoch hängt alles an den geheimen Wünschen und Willen der Verantwortlichen, die in hoher Position stets triumphieren. ...

Hier ist mehr Luft und Sonnenlicht als in Charlestown, und wir haben täglich einen gemeinsamen Ausgang im Gefängnishof. Mir geht es jetzt wirklich besser.

Ich sorge mich um Dich, hoffe, dass Du nicht ganz auf Dich vergisst und Dich soweit pflegst und ausruhst, wie es Dir die Situation erlaubt. ...

* Gouverneur Fuller hatte dem Verteidigungs-Kommitee kurz davor geschrieben, dass er im Fall selbst untersuchen wird.

 
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27. April 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Tante Bee,*

Deine letzte Sendung mit den Ausschnitten habe ich gestern erhalten. Mein Genosse Vanzetti und ich haben diese schönen Nachrichten natürlich mit großem Interesse gelesen. Doch solltest Du uns auch jene schicken, die gegen uns sprechen, damit wir wissen, was die Kleingeister zu sagen haben. In der letzten Ausgabe des Boston Heralds, die Du mir schicktest, fand ich den beherzten Kampf der rebellischen Studentinnen des Smith College interessant, wie sie, gegen die Stadtbevölkerung von Northampton eine Massenkundgebung für uns auf die Beine stellten.

Doch möchte ich gleich sagen, liebe Mutter, dass ich nicht glaube, dass die Menschen von Northampton gegen uns sind. Nein, denn ich habe mein ganzes Leben unter den Arbeitern verbracht. Doch könnte es sein - und davon gehe ich aus -, dass die Menschen von Northampton Opfer verlogender Propaganda einer dominanten Gruppe sind, die Jahr für Jahr auf den Schultern der ausgebeuteten Menschen von Northampton leben. Wenn Du also jemanden der Initiative oder der Studentinnen sehen solltest - und auch Leute aus Northampton, weil ich vom zuvor gesagten überzeugt bin -, so richte meine und auch Vanzettis herzlichste Grüße und Dank aus für all die Aufmerksamkeit gegenüber unserm Fall. ...

* Mrs. Evans. So wurde sie von einigen engen Freunden genannt.
 
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27. April 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Winslow,

Ihr Buch kam heute Morgen. Ich habe es mir bereits angesehen, wie ich es mit jedem Buch machen muss, das mir in die Hände gerät, genauso, wie ich mir auch jeden Menschen genau ansehe, der mir begegnet.

Vielen Dank für Ihre Widmung. Die Namen der großen Autoren, aus deren Beiträgen das Buch besteht, lässt mich respektvoll verneigen und und mein Herz springen vor Freude. Franklin brachte mich bereits zum Lachen und Emerson zum Staunen. Allein die Sätze, die ich zufällig aufgeschnappt habe, machen mir klar, dass ich - sofern ich Zeit für die Lektüre dieses Buches habe, das Sie mir so herzlich schickten - Stunden gesegneter Freude mit dieser Vereinigung kongenialer Größen haben werde. Ein feinsinniger Austausch, der durch das Wissen Ihrer Beteiligung noch versüßt wird.
 
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3. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mary [Donovan],

diesen Nachmittag waren Aldino, Amleto, Milio und Rosa zusammen mit den Herren Thompson und Ehrmann hier, um die letzten Korrekturen am Gesuch an Gouverneur Fuller vorzunehmen und es zu signieren. Mir, genauso wie den Mitarbeitern, erscheint es wunderbar gelungen. Dennoch weigert sich Nick, aller Zusprache und Argumente zum Trotz, seine Unterschrift darunter zu setzen. Amleto verließ uns allein und mit leisen Tränen. Seit zwei Wochen rede ich deswegen auf ihn [Sacco] ein. Ich bin müde und verzweifelt. Diese sieben Jahre haben tiefe Spuren in ihm hinterlassen; jede Vernunft prallt an ihm ab. Ich mache mir deswegen größte Sorgen, denn ich hasse es, in dieser wichtigen und öffentlichen Angelegenheit mit ihm streiten zu müssen. Ich hoffe, seine Laune bewirkt morgen einen Meinungsumschwung, und dass Genossen des Verteidigungs-Kommitee morgen wieder kommen und einen letzten Versuch unternehmen, seine Unterschrift zu erhalten. ...

In gewisser Weise hat Nick ja recht. Es gibt unzählige Gründe für Misstrauen, Pessemismus und für die Abscheu gegenüber weiteren Anträgen, nachdem so viele vergeblich waren. Könnte die Verteidigung unseren Fall ohne unser persönliches Gesuch an den Gouverneur an die Verantworlichen herantragen, hätte ich auch lieber darauf verzichtet. Doch sind unsere Unterschriften notwendig; auch haben wir nicht das Recht, einen Mann zu verabscheuen, dessen Herz und Meinung zu dem Fall wir nicht kennen. Unter Berücksichtigung all jener, die sich unser Gesuch an ihn erhofften, habe ich hart an den Fomulierungen gearbeitet und das Gesuch unterschrieben; ich glaube, es ist ohne Widersprüche oder Fehler. ...

Bleibe Du indessen tapfer, standhaft, und pass auf Dich auf so gut wie möglich. Wir wurden geschlagen, ja, aber wir haben noch nicht verloren - der Sieg ist noch möglich. ...

Ich höre nun mit dem langen Gekritzel auf. Es ist schon nach zehn Uhr. Du schläft hoffentlich schon einen tiefen, geruhsamen Schlaf - doch wie ich Dich kenne, verausgabst Du Dich auch in diesem Moment für uns. Wie auch immer, ich gehe nun zu Bett. Ich bin sehr müde. Die Lichter waren schon aus, als ich dies im Halbschatten geschrieben habe. Es machte mich schläfrig. Mögest Du dies nach gutem Schlaf erhalten. ...

 
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3. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Tante Bee,

es ist ein wunderschöner Morgen und der frohsinnige Strahl des Sonnenaufgangs wärmt die Herzen der unendlich traurigen Seelen. Und die liebevollsten Gedanken strecken sich Dir und meinen Liebsten entgegen. ...

Sei frohen Mutes!

 
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Im sonnigen Morgen
7. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin Mrs. Winslow,

Ihr Brief vom 5. Mai erreichte mich durch Menschenhand, doch die Lebendigkeit Ihres Herzen erreichte das meine durch die universelle Aura. Wenn Sie es als hilfreich erachten, Auszüge meiner Briefe an Mrs. Evans und Sie zu veröffentlichen, so verbietet mir meine Bescheidenheit jeden Einspruch, obwohl sie nach meinem Verständnis kaum mein ganzes Wesen ausdrücken können, sondern bloß ein Gefühl und eine Haltung: Das Gefühl und die Haltung eines Gekreuzigten gegenüber jenen, die ihm die Bürde des Kreuzes auf seinem Weg nach Colgathe erleichterten.

Ich bin erfreut, dass Sie meine Stellungnahme an den Gouverneur mögen und unterstützen. Doch wirklich großartig ist sie nicht; das Beste, die tieferen Wahrheiten, wurde abgeschwächt und entfernt. Ich folgte dem Wunsch von Mr. Thompson, um unsere Rettung und Befreiung zu ermöglichen; Freigeister stellen ein Bittgesuch an einen Mann der Autorität. Knebel die Wahrheit; knebel das Recht, knebel die höchsten Lieder unserer Seele, das stärkste Zeichen unseres Impulses, all unsere Spontaneität, um nur ja nicht andere zu beleidigen und sich selbst zu schaden. So vieles blieb ungesagt, so viel anderes wurde vernebelt, verkrüppelt, verschleiert. Gibt es Zeit und Möglichkeit, werde ich Ihnen irgendwann die Geschichte dieses Gesuchs erzählen. Ich hatte mich ganz eingebracht und war krank, fühlte die ganze Last der Erdenschwere, und mein Geist krümmte sich über sich selbst. Diese Arbeit hat mein Fleisch verschlungen.

Ich tat es im Namen des Bewusstsein. Ich weiß, dass man für uns weder Sympathie noch Gedanken übrig hat: Wir stehen für Freiheit und Recht, das bedeutet Gleichheit und Gerechtigkeit; sie stehen für Autorität und Privilegien, was Tyrannei und Ungerechtigkeit bedeutet. Das ist die ganze, nackte Wahrheit. Wird gegen die zwei nicht bis zum letzten Blutstropfen gekämpft? Darum war mein Rechtsgesuch eine Tat des Bewusstseins. Lebenslange Haft werden wir ebensowenig akzeptieren wie den Tod, der nicht von einer stärkeren, physikalischen Kraft bestimmt wird, und wir sehen beides als eindeutige und klare Morde, begangen durch die Reaktion gegen die Revolution: Dies ist die ultimative Essenz unseres Falles, und weil das so ist, können wir nicht klein beigeben und um Vergebung bitten. Wir würden sonst Tyrannei über Freiheit stellen, Privilegien über Gerechtigkeit, Feinde über unsere Eltern, Frauen, Brüder, Genossen und Kinder. Wer sagte, dass ihr euch vor dem Zorn der Duldsamen und Sanftmütigen in Acht nehmen solltet? Ich weiß, dass einer unserer Dichter, Gori, sagte: Weh dem, über dessen Haupt sich sammeln die Verwünschungen der Frauen und Mütter. Er meinte den Zaren damit. Die Grobiane lachten über ihn. Sollen sie lachen, wenn sie können.

Wie ich sehe, haben die Zeitungen von heute den wichtigsten und stärksten Teil des Gesuches nicht publiziert. Das ist ein eindeutiges, unleugbares Beispiel dafür, wie sehr ehrene Grundsätze durch den Konservatismus verletzt, verformt und verfälscht werden. Wenn das bereits bei einer Kleinigkeit wie meinen Worten geschieht, kann man sich kaum vorstellen, was in der Vergangenheit mit den großen Grundsätzen wahrer Genies passierte. Wenn Sokrates so gesprochen hätte, wie ihn die Harvard Classics sprechen lassen, - nie hätte er aus dem Schierlingsbecher kosten müssen, sondern wäre im Parthenon platziert worden als "lebende Stimme der Vernunft", wie dieselben in lächelnder Kaltblütigkeit zu sagen wagten, die ihn erledigten, weil ein toter Mann keine Geschichten erzählt.
Nach den gleichen Berichten scheint es, dass sich der Gouverneur für eine öffentliche Untersuchung des Falles entschieden hat. Wir können nur hoffen, dass sie nach den beiden Verhandlungen und den sieben Anträgen keine weitere Farce sein wird. In jedem Fall wäre es unser Verdienst. An dieser Stelle muss ich hinzufügen, dass die Herrn Thompson und Ehrmann und andere sich um das Gesuch noch verdienter machten als ich. Meine Aufrichtigkeit und Sturheit haben ihre Geduldsfäden aufs Äußerste gespannt und den armen Stenographen völlig entnervt. ...

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8. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Tante Bee,

nächsten Donnerstag bin ich seit sieben Jahren in dieser engen, deprimierenden Zelle eingeschlossen, und nachdem ich all diese langen Jahre grundlos verfolgt worden bin, ich und meine arme Familie, warte ich hier nun auf meine verfluchte Hinrichtung. Und doch, kurz nachdem ich heute Früh erwachte, zauberte mir der strahlend blaue Himmel ein Lächeln in meine Augen. Und während der goldene Sonnenaufgang die Blumen beim kleinen Birnbaum und dem Laub eines alten Eichenstamms, der zu blühen beginnt, erstrahlen ließ, atmete ich beseelt mit den Duft all der Blumen, die mir meine Freunde schickten, die lebendige, süße Atmosphäre eines neuen Tages ein, den die frische Brise in meine enge Zelle weht. Das heutige Datum ist mir ein bittersüßes in meinem Herzen, denn es erinnert mich an meine erste und zweite liebe gute Mutter; an die Zugehörigkeit, das Vertrauen und all die plötzlichen Schmerzen, die Dich, die sie, ein Leben lang und bis ins Grab begleiten werden, wie es all den anderen leidenden Mütter ergeht. Im Herald vom 5. Mai - der Ausschnitt, den Du mir geschickt hast - waren die schlechten Nachrichten zu lesen, dass Sacco sich weigerte, seinen Namen unter das Fuller-Gesuch zu setzen, weil - außer sich und geisteskrank. puff! Oh ja, so war es immer im Laufe der Geschichte ... Wenn jemand eine Gefahr für die Geldbeutel einer bösartigen und tyrannischen Klasse sein könnte, zerstört sie erst sein Leben und nennt ihn dann einen durchgedrehten Verbrecher und geisteskrank. Und dennoch bleibt einem voll Stolz jener ehrliche Glaube aufrecht, den man liebt und für den man litt und durch den man wissend zu Fall kam, während man liebte und litt - denn dem gegenüber steht die schändlichste Seite der Menschheit.

Es tat mir sehr leid von Rosina zu erfahren, dass die Wachmänner Dir den Besuch verweigerten. Doch hoffe ich und wünsche mir und beknie die Verantwortlichen dieser Institution, dass Du mich das nächste Mal besuchen kannst wann immer Du kommen möchtest. ...

 
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12. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Henderson,*

Ihr Brief an mich und meine Schwester als auch Obst, Käse und die anderen Köstlichkeiten sind gestern angekommen, während ich umgehend Ihren Brief an meine Schwester übersetzte - voller freudiger Gewissheit, dass er meiner Familie Zuversicht schenken wird. Ich schrieb auch an einem Antwortbrief. Doch überkam mich heute früh noch im Schlaf das Gefühl der Unzufriedenheit über jene Antwort, hatte ich doch eine Sache vergessen. Also machte ich mich daran, diese hier an Sie zu schreiben - und da bin ich.

Ich dachte gerade darüber nach, dass Ihr Schweigen auf dem herben Rückschlag gründen könnte, der durch die Ablehnung durch den Obersten Gerichtshof und die Urteilsverkündung durch Thayer - die Sie möglicherweise krank machte - entstand. Wie hatte ich doch recht.

Diese beiden Entwicklungen wurden nur zu gut von mir vorhergesehen und erwartet - sie konnten mich also weder überraschen noch erschüttern.

Also, liebe Mrs. Henderson, ich werde nun ehrlich und offen sein - das heißt fanatisch, brutal und scheinbar dumm und ungerecht. Wir haben unsere Hoffnungen bereits in sieben Anträge gesteckt, von denen jeder abgelehnt wurde. Selbstverständlich hofften wir auf die Gerichtshöfe. Was taten die? Sie raubten uns die Hoffnungen, daher bauen wir natürlich jetzt auf Governeur Fuller. Als Victor Hugo sagte, Hoffnung wäre die höchste Göttin, gäbe es die Verzweiflung nicht, hatte er praktisch recht. Nach der Verzweiflung kommt vor dem Tod nur noch Betäubung und Bewusstlosigkeit.

Wissen Sie noch, wie sehr Sie an die Gerichte glaubten? Jetzt setzen Sie Ihre Hoffnung und Ihr Vertrauen in Governeur Fuller. Dafür haben Sie bestimmt gute Gründe, und wahrscheinlich ist er Ihnen gut bekannt. Ich hingegen kenne bloß seinen Namen sowie seine Auftritte und Äußerungen bei öffentlichen Anlässen. Ihrer Einschätzung, wie er sich unseres Fall annimmt, widerspreche ich dennoch. Ich glaube, er ist derart gegen uns eingestellt, dass er die drei jungen Banditen und Veteranen mit dem Autoschuppen in den Tod schickte, nur um keinen Grund zu liefern, unserer Todesstrafe in lebenslange Haft umzuwandlen. Er konnte sicher sein, dass uns das Todesurteil erwartet. Man braucht nicht viel um zu begreifen, dass wir im Namen des kapitalistischen Regimes, durch kapitalistische Richter, die alle davor und danach seine Diener waren, ermordert werden.

Alle, die den Gouverneur kennen, beschreiben ihn als couragierten Mann, ehrlich und aufrecht, der das, was er für richtig hält, voll Energie anstrebt. Sehr schön. Doch die Leute, die ihn kennen und mögen, sind ihm ähnlich oder so wie er. Ich kenne ihn besser, weil ich genauso war wie sie: ich glaubte an die gleichen Dinge, mochte oder verachtete die gleichen Dinge, hatte dieselben Meinungen, Reaktionen, moralischen Ansichten wie sie jetzt. Doch habe ich mich völlig geändert, und kann darum sagen, wer ich vorher war.

Seit sieben Jahren erlebe ich die Hölle des Staatsgefängnisses von Massachusetts. Mir begegnen Werte, Verständigkeit, Intelligenz, unausprechliche Erfahrungen der Verlorenen, die diese Hölle bevölkern. Und hier habe habe ich und meine Genossen der Verdammnis Fullers Worte gelesen: "Warum ich an die Todesstrafe glaube", veröffentlicht in der Ausgabe vom Success im letzten Dezember. Und wir begriffen: Dieses Interview war kein Zufall. Es war geplant und vorbereitet mit klaren Absichten mindestens eines der Beteiligten (Fuller oder der Journalist) und von beiden genehmigt. Es verkündete und garantierte die Hinrichtungen von Madeiros, Jerry und den drei Autoscheunen-Ganoven als auch von Sacco und Vanzetti bereits im Vorfeld. Das selbe Bostoner Magazin achtete peinlichst darauf, dieses Interview publiziert wurde, bevor der Gouverneur nach Europa reiste, um gegenübern den Europäern kein Missverständnis aufkommen zu lassen, wie er zu jedem und und zu unserem Fall steht. Und wir, die Verdammten, sagten: Seht! ein Mann bricht mit seiner Frau zur "zweiten Hochzeitsreise" auf - und bricht zu Beginn die Herzen dreier alter Mütter, indem er die anstehender Vernichtung derer jungen Söhne verkündet. Hätte er die Zeit nicht auch genießen können, ohne diesen drei alten Mütter noch mehr Schmerzen zu bereiten?

Er benennt den Fall nicht, von dem er spricht, damit er seine Meinungen, Urteile und Zustimmungen, Andeutungen und Schlussfolgerungen stets nach seiner Lust und Laune zurückziehen kann, ohne Kontrolle oder Widerspruch. Er sagt zum Beispiel: Wir müssen feststellen, ob sie (die Verurteilten) schuldig sind. Wenn nun der Leser glaubt, der Gouverneur meinte damit unseren Fall, dann denkt dieser Leser wohl, genau das wäre in unserem Fall passiert. Doch angenommen, das Gegenteil würde gesagt oder bewiesen. Dann würde der Gouverneur erwidern: Über diesen Fall habe ich ja nicht gesprochen. ...

Doch genug davon. Hoffen wir, dass Sie Recht haben und ich mich irre, was seine Gefühle und Absichten anbelangt. Er mag 100 Mal besser sein als ich - seiner bon plaisir würde ich nicht einmal eine Feder eines anarchistischen Spatzes anvertrauen.

Wir verdanken unser Leben Ihnen, unseren Freunden, Genossen und all den Leuten auf der ganzen Welt, die sieben Jahre lang für uns kämpften - und Ihnen und den Mitstreitern werden wir unsere Freiheit verdanken, falls wir je frei gelassen werden; Mrs. Evans, Sie, das Kommitee, Mr. Thompson. Wenn es Sie nicht gäbe, wir wären schon längst begraben - tot im Grab oder lebendig in einem Gefängnis.

Ich hoffe inständig, dass meine obigen Worte Ihre Gefühle nicht verletzen. Ich war mir sicher, dass die Obersten Richter uns ermorden würden. Sie haben es getan. Hätte ich Ihnen meine Meinung über sie mitgeteilt, wäre es Ihnen widerwärtig erschienen; ich hätte Sie verstört und aufgeregt. Dennoch war ich mir sicher. Von einem Menschen wie Fuller, in einem Fall zwischen Reaktion und Revolution, wie es der unsrige seit Beginn gewesen ist, zu zwei Anarchisten - nun, ich bin mir dessen sicher.
Vielleicht gibt er uns Gerechtigkeit - ich erwarte nichts. ...

Ich versuche jetzt erst gar nicht, unsere Dankbarkeit dafür auszudrücken, was Sie für unsere Familien und uns alles tun. Wir können es nicht. ...

* Mrs. Jessica Henderson aus Wayland, Massachusetts.

 
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12. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Genossin Blackwell,

ich wundere mich über Dein ungewöhnlich langes Schweigen. Seit Ostern habe ich nichts von Dir gehört. Geht es Dir nicht gut? Hast Du meine Antwort auf Deine Ostergrüße an mich erhalten?

Ich bin hier ständig in einer Zelle eingesperrt, von einer Stunde Hofgang abgesehen. Diese Einschränkung wirkt sich stark auf meinen Geist aus. Ich fühle mich dumpf und bin nie in guter Stimmung, um zu schreiben. Ich möchte Briefe über den Fall an einen Genossen in Frankreich schreiben, der sie in seiner Pariser Wochenzeitung publizieren würde, sie ins Französische übersetzen für die französischen Magazine, und auch welche an andere Blätter in italienischer Sprache schicken.

Nun, seit einer Woche kritzle ich vor mich hin ohne einen einzigen, zufriedenstellenden Satz zu fabrizieren. So an die 32 Seiten habe ich mittlerweile - doch sind sie, wie wir sagen, "Ausschuss-Ware" ["ugly copy"]. Dennoch hoffe ich, bald damit fertig zu werden, und meine Versprechen an Dich einzulösen zu können.
 
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14. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Winslow,

Ihren willkommenen Brief vom 5. Mai habe ich erhalten, genauso wie den schönen davor, und Sie können mir hoffentlich vergeben, dass ich nicht schon darauf geantwortet hatte. ...

Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie, wie Sie sagten, Rosina gute Nachrichten überbrachten und sich um sie kümmerten, weil es ihr sehr schlecht ging, nachdem ich mich weigerte, das Gnadengesuch zu unterschreiben, das Mr. Thompson an Governeur Fuller sandte. Für diese feinfühlige Geste im Speziellen, wie auch für all die anderen und die Anteilnahme, die Sie unserem Fall entgegenbringen, danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Verzeihen Sie, aber könnten Sie mir die guten Neuigkeiten mitteilen, die Sie meiner Frau überbrachten? Ich habe nicht unterschrieben, weil ich sicher weiß, dass der Gouverneur Fuller und alle anderen Instanzen jede faire Behandlung ablehnen werden. Viele meiner Freunde und Genossen haben noch immer die diesselbe Hoffnung wie Sie, und es schmerzt zu sehen, wie sie sich schlafend diesem falschen Optimismus hingeben, während der Elektrische Stuhl auf uns wartet. Meine einzige Hoffnung, die ich bis zum heutigen Tage in meinem Herzen trage, liegt bei den Freunden und Genossen und dem internationlen Proletariat; die allein können uns vor der ungerechten Hinrichtung retten.

Haben Sie keine Angst! Wenn ich an all die dumm unterdrückte Menschlichkeit, das Leiden meiner geliebten Rosina und die Feindseligkeiten in all den sieben Jahren denke, die ich nun in diesem höllischen Zellenloch verbringe, verliert für mich Furcht wirklich jede Bedeutung. Wenn die Köpfe von Massachusetts die Möglichkeit haben, uns zu hängen, seien Sie unbesorgt, meine liebe Freundin, dann werden sie uns rücksichtslos hinrichten. ...  

 
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15. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Lieber Bigelow,

also, Dein netter Brief vom 17. April wurde mir gestern nachmittag überreicht, und es war eine Freude, von Dir zu hören. Ich weiß nicht, ob das Todesurteil an uns vollstreckt oder in lebenslange Haft umgewandelt oder was sonst herauskommen wird. Ich weiß nur, dass uns nur noch Extreme bleiben.

Lieber Bigelow, subjektiv bedeutet sie mir nichts, unsere weltweite Bekanntheit, außer, dass meine Liebe zur Menschheit hoch belohnt wird - denn diese Liebe ist alles, worum es mir geht, und nicht um Ruhm, Ehre etc. Aber objektiv ist dieser allgemeine Aufstand gegen eine Ungerechtigkeit für mich eine Apotheose. Weißt Du noch, was ich allen schrieb: "Ihr habt für uns getan, was früher nur für Heilige und Könige getan wurde." Das ist ein echter Fortschritt. Das sollte jeden anspornen, der guten Herzens ist.

Ach! China und Russland entwickelns sich ärmlich und unglücklich, soweit ich es weiß. Dennoch sollen deren Mühen nicht umsonst sein. Ich werde nun keine Diskussion über diese beiden Themen anstoßen, das würde den engen Rahmen eines einfachen Briefes sprengen. Doch möchte ich, dass Du Dir die Bücher von Pier John Proudhon zulegst (möglicherweise gibt es zwei Bände oder einen). The War and the Peace [Der Krieg und der Frieden]. ... Unternimm alles, sie zu bekommen, und wenn Du sie hast: Lies sie sorgfältig, geduldig, mit aller Aufmerksamkeit, denn die Lektüre wird Deinem Geist die derzeit herschende Situation der Menschheit und die wahren Probleme jedes Einzelnen, Landes und jeder Rasse offenbaren. Sie wird auch Deine Moral angesichts der Widrigkeiten des Lebens festigen und Dein Herz erfreuen. Solltest Du kein Exemplar finden können, doch meine Gedanken wissen wollen, werden wir nach und nach darüber reden. ...

Dein Angebot, das Du uns machtest, schätzen wir sehr. Uns können hier Nahrungsmittel, Blumen und Bücher geschickt werden, doch bitten wir Dich dringend, Dir deswegen keine Umstände zu machen, haben wir doch schon mehr, als wir brauchen. Lasse einfach die Flamme der Freundschaft und Solidarität weiter so lebendig brennen wie derzeit.

Auch Nick sendet Dir unsere herzlichsten Grüße.

 
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22. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Tante Bee,

ich weiß, wie sehr Du Dich danach sehnst, ab und zu einen meiner ärmlichen Briefe zu erhalten. Ich schreibe stets einen, wenn ich etwas Liebes zu sagen habe und mir sicher bin, ich kann Dein nobles Herz erfreuen.
... Gleich nachdem ich diesen Morgen erwachte, wandte ich mich wie jedesmal zum Zellenfenster und schaute auf den goldenen Schein des Sonnenaufgangs, der die blühenden grünen Triebe der Baumwipfel erstrahlen ließ. Und oben, zwischen den lieblich vorbeiziehenden Wolken, zeigte sich mir der wunderbare Himmel, so strahlend blau wie nie. Während ich im Gedanken bei Dir war, schien sich mir dort oben Dein Gesicht mit Deinen schönen grauen Haaren abzuzeichnen. Oh, wie traurig ist es, das Leben hier, in dieser schlechten Gesellschaft zu verbringen! ...

Ja, letzten Mittwoch verbrachten wir eine gute Stunde in der Gesellschaft von meiner Lieben Rosetta und Mrs. Winslow. ... Sie brachten jedem von uns ... zwei wunderschöne schwarz-rote Rosen, die ich am liebsten mag. ...

Alle Blumen duften und sind von strahlender Schönheit, aber die schwarz-rote Rosen duften am vollsten und haben die belebendste Schönheit von allen Blumen. Hier ein Gedicht von wahrer Schönheit, auch als Erklärung, warum mich die schwarz-rote Rose besonders berührt. Von C. Jacobs Bond.

There's a rambler on the trellis
And a wild rose in the hedge,
With a gray and golden Marechal Neil
Upon the arbor's edge.
There's a sweetheart bud a-tapping
At the window of my room
And my heart is singing ... singing
For the roses are in bloom!

[Eine Kletterrose am Spalier,
Und eine Wildrose in der Hecke,
Mit einer Marechal Neil, grau und golden
Über dem Rand der Laube.
Eine süße Knospe tippt
An mein Zimmerfenster leis
Und mein Herz, es singt ... es singt
Wenn die Rosen voll erblühen!]

Und, Mutter, ist das nicht ein entzückendes, kleines Gedicht? ...

 
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22.Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mary [Donovan],

... Du glaubst nicht an einen guten Ausgang Deines Falles.* Interessanterweise habe ich die letzten Tage genauso darüber gedacht wie Du. Die Gesetze sind der verschlüsselte Wille der herrschenden Klassen; die Gesetze haben den Zweck, die organisierte Gewalt des Staates zu legalisieren; die Gesetze und Gerichte sind daher Werkzeuge der Bosse, wie auch die Richter, die Polizei, die Scharfrichter und die Spione ihre Diener sind. Die Unterlegenen sind vor Gericht stets auf der Seite des Unrechts, denn es ist darauf ausgerichtet, den Willen und die Macht der Überlegenen zu erhalten. Ein Rebell oder Erneuerer ist so stets schuldig vor diesen Gesetzen, die auf Konservatismus ausgerichtet sind. Das ist der Grund, warum jede neue Idee, Religion, Macht, Wahrheit darauf aus war, die widerstrebende Gewalt der zuvor etablierten Ideen, Religionen und Mächte mit Gewalt niederzuringen. Um vom Allgemeinen zum Speziellen zu kommen: Du bist eine Untergebene und eine bekannte Erneuerein - und damit in einer schlechten Position, denn die Richter sind da, um die Mächtigen zu stützen;  und Du hast noch größere Schuld auf Dich geladen als Deine Bosse vorgeben. Genauso wie wir vor den Richtern eines größeren Vergehens schuldig sind als der angeblichen Morde, bist Du eines größeren Vergehens schuldig als dem angeklagten Fehlverhalten.  Darum hattest Du so über den Ausgang Deines Falles gedacht. Doch weil Ausnahmen die Regel bestätigen, könntest Du den Fall gewinnen - was ich Dir sehr wünsche. ... Doch möchte ich Dir auch raten, falls Du verlierst: Gräme Dich nicht. Ich kann gut verstehen, dass einem solche Dinge tief verletzen können. Ich bin keiner von jenen, die behaupten, dass die Bedeutung der Dinge nur in unserem Kopf und durch unsere Gefühle entstehen. Im Gegenteil sehe ich es so, dass alles sein eigenes Wesen hat, unabhängig von unseren Gedanken oder Gefühlen. Doch ist es weise, uns nicht davon beherrschen zu lassen - wir müssen unsere Drehlager ölen und ruhig und ganz bei uns bleiben, jedenfalls soweit es möglich ist. Nimm zum Beispiel die Sache mit den Ausschnitten aus dem Herald, die Du mir geschickt und angefertigt hast. Du weißt ja bereits, was die Wächter damit angestellt haben, und ich weiß, wie hinterhältig und gemein sie es taten - sie waren nicht Manns genug zuzugeben, sie zurückzuhalten, und versteckten sich hinter der Lüge, dass "nichts angekommen" wäre. Als sie es schließlich doch zugeben mussten, sagten sie, "Zeitungen sind gegen die Verordnung, doch werden wir Ihnen die Ausschnitte aushändigen" - was sie nicht taten. Am liebsten wäre ich Ihnen an die Gurgel gesprungen. ... Doch wozu soll ich mir Blut und Nieren mit nutzloser Wut verderben? Nein, nein, eines Tages werde ich es der Welt erzählen, wenn ich kann. ... Doch mich von diesen Dingen beherrschen und beschädigen zu lassen, wäre nicht klug. Das rate ich Dir auch. Und denke nicht mehr an die Ausschnitte; ich habe genug, um meine Sache darzulegen. Sende mir von nun an alles über die Verteidigung.

... Manchmal bin ich Nick gegenüber ungeduldig, harsch oder abweisend. Dann mache ich mir klar, dass es um mich noch schlimmer stünde, wäre ich wie er sieben Jahre lang isoliert. Und bedenke dann alle Umstände und schäme mich und bereue meine Haltung ihm gegenüber. Alles hängt von der persönlichen Veranlagung ab. Jetzt versetze ich mich in seine Stimmung; er möchte niemand beleidigen, und wenn doch, so muss man Manns genug sein, Verständnis dafür zu haben. So komme ich gut zurecht. Wenn ich hingegen nicht genügend bedenke und Dinge auf mich wirken lasse, wie sie gar nicht sind, und mich gehen lasse, leide ich und reagiere entsprechend. Siehst Du, ich gehe mit den Drehgelenken meines Wesens ganz gut um - und alles ist gut. ...

In New York sitzt der Leiter der Il Proletario, die Wochenzeitung der italienischen I.W.W. Er ist so prahlerisch wie ich und nennt seine Zeitung "die älteste Zeitung der Revolution der Vereinigten Staaten Amerikas und Kanada." Er druckte das auf einen Rundbrief, der um finanzielle Unterstützung bat, wovon er mir ein Exemplar sandte - mir, der ich die Wahrheit kenne. Also schrieb ich ihm: "Du weißt, Mangano, Dein Blatt ist das jüngste Blatt der Revolution in den U.S.A. und Kanada. Es wurde von den italienischen Sozialisten gegründet, die Du 'Reformisten' nennst. Es waren deren unrevolutionäres Organ bis 1911, als es beim Utica Kongress zur Trennung zwischen 'Syndicalisten' und 'Sozialisten' kam. Die ersteren bekamen den Proletario und verschrieben ihn dem 'revolutionärem Syndikalismus' - bis dahin stand er für 'reformierten Sozialismus'. Die Sozialisten brachten ein anderes Wochenblatt heraus, das sie als das älteste in den U.S.A. und Kanada bezeichnen. Wer beide kennt, doch nicht mit den Fakten vertraut ist, fragt sich, was denn nun stimmt. Doch haben die Sozialisten Recht und Deines ist das jüngste Blatt der Revolution in diesem Land, denn es wurde erst zu einem solchen, da wurden die beiden anarchistischen Blätter schon seit Jahrzehnten publiziert." Ich schickte ihm auch ein paar Dollar mit der Bemerkung, hier ist eine Kleinigkeit und dass ich das Alter unserer Zeitungen nur zu gern verleugne, wenn ich etwas Besseres beginnen kann.

Weißt Du, was mir Genosse M. antwortete? "Nun, ab jetzt werde ich sie die älteste Arbeiterzeitung nennen. Ist das in Ordnung?" Möglich, mir ist es egal. Diese "Altersbessenheit" finde ich einfach lächerlich. Er erklärt mir auch, dass er sie nicht "die älteste Sozialisten-Zeitung" nennen kann, weil wir ja alle Sozialisten seien, sogar Du. Als hätte er mit dieser Aussage Amerika entdeckt.  Doch schätze ich die Grundlinie seiner Zeitung; er ist fraglos auf unserer Seite.

Was mich über allem betrübt ist jedoch nur, dass der Triumph einer großen Sache große Männer braucht - doch ach! davon zeugen diese Briefe nicht. Von jetzt an ziehe ich die Drehgelenke fest.
Es ist jetzt Sonntag morgen, und mein Brief wirkt wie eine Predigt über "die Drehgelenke". Geleitet hat mich das Bewusstsein über Deiner beschwerlichen Situation und mein Wunsch, Dir eine Hilfe zu sein. Wenn Du Deinen Anruf verzögern musst, lass dies eine kleine Hilfe sein.
Doch wenn Du "Arrivaderci" anstatt "Arrivederci" schreibst, lasse ich alle Drehgelenke locker und ich muss richtig lachen. Wie unvernünftig, wie gemein, nicht wahr? Nun, Arrivederci, liebe Genossin.

* Mary Donovan hatte eine öffentliche Anhörung wegen ihrer Entlassung vom State Department of Labor and Industries. Danach hatte sie eine gerichtliche Anhörung betreff der Vorwürfe, auf denen ihre Entlassung gründet.

 
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24. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Treue Freundin Mrs. Evans,

Miss Bloom war so aufmerksam, mir eine Ausgabe der Unity vom 16. Mai zu senden, in der Ihr Artikel über den Fall erschien: "Soll Massachusetts einen Jusitzmord begehen?"
Genau darauf wurde sieben lange Jahre hingearbeitet. Alles deutet darauf hin, dass sie es auch zu Ende bringen. Als mir die Richter den letzten Dolchstoß versetzten, sagte ich Ihnen: "Der Fall ist verloren und vorbei!" Sie antworteten: "Euer Fall hat in Wahrheit erst begonnen." Sie hatten Vertrauen in Fuller. Ich wusste, wir sind verloren, denn Fuller konnte gar nicht anders, als gegen uns zwei Freigeister zu sein, auf der Seite des Geldes und der Tyrannei.

Ich sagte Ihnen: Fuller hat sich in seinem "Warum ich an die Todesstrafe glaube" offenbart.
Sie antworteten: "Da ging es um einen Fall eindeutiger Schuld - Euer Fall ist anders."

Ja, unser Fall ist anders; nicht einmal ein Hund, der Schafe gerissen hat, wäre auf Basis der Beweise, die gegen uns aufgefahren wurden, von amerikanischen Geschworenen schuldig gesprochen worden. Der Oberste Gerichtshof von Massachusetts hätte einem räudigen Hund einen neuen Prozess gewährt; professionelle, konservative Kriminelle (die sind alle konservativ) wären sofort auf freien Fuß. Doch uns haben sie verurteilt, weil wir Italiener, Kriegsgegner und Anarchisten sind: um das zu erreichen, verschrieben sie sich der abscheulichsten, kriminellsten Vorgangsweise: jetzt müssen sie uns töten, um ihre Gesichter und das Ansehen ihrer Institutionen nicht zu verlieren - und um ihre Ängste zu ersticken. Sind wir tot, erhoffen sie sich Ruhe, Frieden, Vergeltung und Ehre. Wie durchschaubar es erscheint, dass die Götter jenen die Weisheit rauben, die verlieren sollen. Dem Irrsinn unserer Mörder - die uns für weltliche Ehren und die Bewahrung des Unrechts töten - fehlt es nicht an Geist, Geschicklichkeit oder was auch immer, doch wurde er durchdrungen von einer Art Obsession, die sie in einen Abgrund führt - zur Vernichtung. So war es am Abend aller Revolutionen. ...

Warum weigert sich Fuller, die Untersuchungskommission zu berufen? Aus mindestens zwei oder drei Gründen: 1. Weil es einem Eingeständnis gleichkäme, dass das Verfahren oder die Gerichte nicht über jeden Zweifel erhaben wären. Diesen Anschein muss im Sinne der Bewahrung und der Gegenwehr um jeden Preis vermieden werden, gerade in so revolutionären und unruhigen Zeit wie der unsrigen. Außerdem ist der Preis sehr gering: unsere Leben.

2. Fuller und jenen, denen er im Grunde zugehörig ist, wissen nur zu gut, dass eine offene, umfassende Untersuchung des Falles uns entlasten und der Welt die Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Bösartigkeit unserer blutdurstigen Henker vorführen würde.

Also leitet Fuller diese Besprechung des Falles auf die einzig mögliche Weise, die es ihm ermöglicht, sich unserer so zu entledigen, wie er es wünscht und als richtig ansieht. Kein Prozess, keine Gegenüberstellung der beiden Parteien; nicht öffentlich, sondern hinter verschlossenen Türen; Ausschluß der Verteidigung, keine Protokolle der Interviews, Aussagen, Meinungen, etc. etc.; ihm assistieren nur Personen aus seinem nächsten Umfeld und Freunde seiner Sippschaft. Schlussendlich wird er jene Entscheidung treffen, die er seit Jahren im Herzen trägt, und behaupten, sie wäre das Ergebnis seiner jüngsten Untersuchung des Falles. Die Gründe, mit denen er sowohl seine Entscheidung als auch die Handhabung der Untersuchung rechtfertigen wird, sollen nicht angezweifelt werden - denn die werden durch die Geheimhaltung seiner Nachforschung unüberprüfbar, unanalysierbar und unerfahrbar.

Zu erwarten, dass Fuller sich gegen die Jusitz, den Mittelstand, das Großkapital von Massachusetts stellt, um zwei verdammte Itaker und Anarchisten zu schützen, erscheint mir absurd. Fullers aktuelles (scheinbares) Vorgehen beweist, dass er uns im Kopf hatte als er sein "Warum ich an die Todesstrafe glaube" zum Besten gab - was die ganze Presse Bostons damals genau so sah.

Warum aber machte er das nicht klar und deutlich, damit wir uns dagegen wehren konnten? Wenn er entschieden war, alles, was zu unserem Gunsten spricht, abzuschmettern, in der Überzeugung, vor seinem Gott und seinen Leuten aufrecht das Richtige zu vertreten, warum sagte er es nicht? Warum erzählte er der Delegation ausländischer, radikaler Zeitungen in New York beim Interview auf seiner Schifffahrt nach Europa, wenige Tage nach der Veröffentlichung, dass er nichts über den Fall wüsste, denn der liege bei den Gerichten, nicht bei ihm, doch dass er sich voll und ganz mit Bedacht damit befassen wird, sollte er auf seinem Schreibtisch landen. Warum sagte er in Frankreich genau das gleiche? ...

Warum wiederholte er es, als er aus Frankreich zurückkam? Warum fragt er auch jetzt nichts als: sind Sacco und Vanzetti schuldig? und nicht, ob der Prozess fair war, sondern ob sie schuldig sind oder nicht?

Außer wenn man selbst die verurteilte Person beim Verbrechen gesehen hat oder man jemand anderen als die verurteilte Person gesehen hat, wie sie das Verbrechen begeht, wofür eben letztere veruteilt worden ist, mit Ausnhame von diesen beiden Fällen gibt er nur eine Möglichkeit, die Schuld oder Unschuld eines Verurteilten herauszufinden: nämlich den Fall zu studieren. Den Fall zu studieren bedeutet keineswegs, bloß die Akten zu lesen und heimlich einige Zeugen zu befragen. Den Fall zu studieren bedeutet, das Verhalten des Richters, der Ankläger und der Verteidiger zu erfassen; die Wesen der Zeugen beider Seiten; die Haltung und Psychologie der Geschworenen; die Besonderheiten des Ortes, wo, und der Zeit, in der der Prozess stattfand; die indirekten Einflüsse, Interessen und Elemene, die für oder gegen die Verurteilten wirkten; sowie eine umfassende Studie der Experten-Gutachten, die in Beisein beider Parteien dargelegt wurden.

Mir scheint, dass der Gouverneur nichts davon im Sinn hat. Mir erscheint sein Verhalten wie jenes von Thayer und der Obersten Richter - getragen vom selben Geist, in der selben Art, und den selben vorgefertigten Zielen und Entscheidungen. Es scheint, dass sein aktuelles Verhalten meine Ansichten bestätigt, und er uns verdammt. ...

 
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25. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Freundin [Mrs. Sarah Root Adams*],

Nick und ich sind jetzt im Gefängnis Dedham. Hier bleiben wir, bis wir zehn Tage vor der Hinrichtung in den Todestrakt des Staatsgefängnisses in Charlestown gebracht werden. Ihren Brief von 1. Mai habe ich erhalten und auch jenen gelesen, den Sie an Nick sandten. Weil Ihre Briefe von Ehrlichkeit, Liebe und aufrichtiger Anteilnahme uns gegenüber erfüllt sind und zeigen, dass Sie, Ihre Schwester und einige Ihrer Freunde von Beginn an auf unserer Seite gewesen sind, sind Ihre Taten und Empfindungen zu edel um mit einfachen Worten vergolten zu werden. Ich werde gar nicht versuchen, Ihnen meine Empfindungen und Dankbarkeit auszudrücken, doch darum ringen, Ihnen in größter Klarheit und Integrität zu antworten. Ich setze mich dabei nur mit den drei Hauptpunkten Ihrer Briefe auseinander, nämlich: Ihre Hoffnung; Ihr und unser Glaube; der Radikalismus, mit dem wir unsere Freiheit erlangen wollen.

Sie hoffen, uns diesen Sommer frei auf Bostons Straßen spazieren zu sehen, und gründen diese Hoffnung hauptsächlich auf die Unterstützung und Petitionen der vielen, die um unsere Freiheit bitten. Dass ein Freund für einen Freund in Gefahr das Beste hofft, sei er in Schmerzen oder vor Gericht, ist ebenso natürlich wie Mitgefühl für einen Freund, der leidet. Ein Freund liebt; wer liebt, wünscht für die Liebsten alles Gute; und wer den Liebsten gutes zu wünscht, hofft, dass über seinem Freund das Gute über das Böse siegt; also wird er optimistisch, erwartet einen guten Ausgang bei jedem Problem; und ein guter Ausgang ist der Sieg guter Kräfte über jene, die uns Böses wollen. In meiner abschließenden Analyse scheint es mir, dass die guten und bösen Kräfte gleichen Wesens sind, und dass alle Mächte im Grunde insofern gut sind, als sie Leben erschaffen, erhalten, das Leben selbst sind. Ob ihr Einfluss auf uns gut oder schlecht ist, ergibt sich aus der Menge, den Bedingungen, den Umständen und der Form, durch die sie sich kanalisieren. Ich spreche hier natürlich von den elementaren Kräften der Natur, wie Feuer, Wasser, Wind, etc., und nicht von den Kräften, die sich in Form bewussten Lebens manifestieren - denn im letzteren Fall ist die Sache viel komplizierter.  Feuer gibt Leben und zerstört es; mit Wasser verhält es sich gleich, mit Wind ebenso. Eine der nobelsten Frauen, eine Freundin von mir, brach sich vor ein paar Monaten den Arm. Sie schrieb mir: Der Knochen meines Arms wollte lange nicht heilen; der Arzt behandelte sodann die Fraktur mit Stromschlägen und ich wurde schnell wieder gesund. Wie schmerzlich der Gedanke, dass dieselbe Kraft, die mich heilte, Ihnen den Tod bringen könnte.

Doch kehren wir zu Hoffnung und Optimismus zurück. Wenn man jemanden liebt, doch dieser krank ist, hofft man, dass der Geliebte gesund wird. Wenn man die kranke Person hasst, hofft man auf deren Tod. So stellt sich mein Fall dar aus Sicht meiner Freunde und meiner Feinde.

Mir war von Anfang an klar, dass Richter Thayer uns töten wollte, denn wir wurden gehasst und gefürchtet vom verlotterten und vergoldeten Gesindel, das ihn mit der Bestellung zum Richter des Obersten Gerichtshofes von Massachusetts belohnen wird. Er ist besessen von dieser Eitelkeit. Dennoch hoffte ich für eine Weile, durch den Beweis meiner Unschuld gewinnen zu können. Doch als ich im Plymouth-Prozess schuldig gesprochen wurde, war mir klar, ich bin verloren, wenn es meinen Freunden nicht gelingt, stärker zu werden als es meine Feinde sind. Wurden die ersten Christen nicht beschuldigt, Blut zu trinken? Ja, das wurden sie, und sie wurden durch die dreckigen und güldenen Mobs ihrer Zeit beleidigt, gefoltert, geschändet. Sogar der weise Marcus Aurelius fürchtete, hasste, beleidigte und tötete sie. Natürlich waren die ersten Christen Gesetzlose, denn sie waren gegen die Gesetze zur Legalisierung der Sklaverei; gegen die Unterdrückung der Menschheit und der Herren über Gerichte und Gesetze durch das mächtige römische Reich; sie zerstörten die Götter, jedoch aus Zorn auf die falschen Götter. Darin lag ihre Richtigkeit, ihre Größe, ihre Erhabenheit; dafür wurden sie getötet. Welche Chance auf gerechte Behandlung und Freispruch hätten diese nicht nur unschuldigen, ersten Christen haben können, wenn sie von Heiden beurteilt werden, für die das Christsein an sich alle Verbrechen und alle Schuld in sich vereint? In allen darauffolgenden Jahrhunderten ließe sich aufzeigen, dass der güldene, verdreckte Mob all jene auf die gleiche Weise behandelte, die etwas mehr Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Triumph und Erhabenheit für Männer, Frauen und das Leben entdeckten, wünschten und erarbeiteten. - So ist es, bis zu diesem Tag. ...

"Radikalismus" ist eine sehr allgemeine Bezeichnung, auf einige Gruppierungen und Glaubenslehren unterschiedlichster und sich widersprechender Art anwendbar. Nick und ich sind Anarchisten - die Radikalen der Radikalen - die schwarzen Katzen, der Schrecken vieler, all der Bigotten, Ausbeuter, Scharlatane, Betrüger und Unterdrücker. Konsequenterweise werden wir auch am meisten verleumdet, missinterpretiert, missverstanden und verfolgt. Dennoch sind wir Sozialisten genauso wie die Sozialdemokraten, die Sozialisten, die Kommunisten und die I.W.W.** Der - fundamentale - Unterschied zwischen uns und all den anderen besteht darin, dass die anderen autoritär sind, wo wir uns der völligen Willensfreiheit verschrieben haben;*** sie glauben an einen Staat oder eine eigene Regierung; wir glauben weder an den Staat noch an irgendeine Regierung. Doch genug davon - ich sage nichts Neues. Sie haben meine Rede im Gericht und mein Gesuch an den Gouverneur gelesen; in beidem bin ich darauf eingegangen. Falls es Sie interessiert, kann ich Ihnen den Eintrag "Anarchie" in der Enzyclopedia Brittannica empfehlen - die Erläuterung dort ist in Ordnung. Im Moment füge ich kurz hinzu, dass es verschiedene anarchistische Auffassungen gibt: es gibt die kommunistischen Anarchisten, die individualistischen Anarchisten, die religiösen, die gnostischen und die atheistischen. Was mich betrifft, habe ich mir aus all diesen Lehren das genommen, was mir am besten erschien, und meine eigene geformt.

Ich wurde in eine katholische Familie geboren und glaubte an die römisch-katholische Kirche bis ich 18 Jahre alt war. Doch soweit es Religion betrifft habe ich eigentlich keinen Glauben, obwohl ich mich bemühe, all das zu lernen und zu praktizieren, was mir bei den einzelnen Religionen als gut und richtig erscheint. Aus genau diesem Grund bin ich für die größtmöglichste Glaubensfreiheit und mache keine Unterschiede, weshalb ich keinen wahrhaft Gläubigen fürchte oder hasse, sei er ein Christ, ein Jude, ein Mohammedaner, ein Buddhist oder was auch immer. Meine Basis, mein Maßstab und meine Beziehung gilt dem Menschen, und nichts sonst. Wenn ich mit Kirchen und Religionen meine Probleme habe, dann sicher nicht wegen der Glaubensfreiheit, sondern aus historischen, ökonomischen, moralischen Gründen.

Jetzt ein paar Worte zu der Erklärung, die Sie uns raten abzugeben um unsere Befreiung vorantzutreiben. Wir können sie nicht abgeben, denn sie widerspricht unserer Wahrnehmung und unserer inneren Einstellung. Sie denken und glauben anders als wir, und nach Ihrem Verständnis wäre Ihr Vorschlag nicht nur hilfreich, sondern auch Ausdruck des aufrichtigsten Verhalten, dem es alle gleich tun sollten. Ich kann Ihnen schwer eklären, warum dies nicht unserem Verständnis entspricht. Eine Eklärung würde zu lange dauern. Doch haben wir ebenfalls einen Glauben, eine Würde, eine Aufrichtigkeit. Unser Glaube wird verflucht, so wie jeder alte Glaube, als er noch am Beginn stand. Doch bleiben wir ihm treu solange wir ehrlich von seiner Richtigkeit überzeugt sind. Wären ich und Nick unserem alten Glauben gefolgt, hätten wir die alte Moral gelebt und ein von Gesetzen und Kirchen abgesegnetes Leben geführt, hätten wir reich werden können auf Kosten der Armen, hätten wir Frauen, Pferde, Wohlstand, Ehre, Kinder, alle Annehmlichkeiten, Bindungen und Freuden des Lebens. Wir haben fast allen der grundlegenden Freuden des Lebens abgeschworen als wir in unseren Zwanzigern waren. Zuletzt haben wir alles unserem Glauben geopfert. Und jetzt, da wir alt, krank, gebrochen, dem Tod nahe sind: sollen wir jetzt, nachdem wir drei Tode ausgehalten und alles verloren haben, sollen wir jetzt heucheln, widerrufen, davonlaufen, in Niedertracht aus Liebe zu unseren bedauernswerten Rückständen? Nie, nie, niemals, gute Freundin Adams. Wir sind bereit, so sehr zu leiden, wie wir bereits gelitten haben, zu sterben, Männer zu sein bis zum Ende. Im Gegenteil: wenn man mir bewiese, dass ich im Unrecht bin - dann würde ich mich ändern. Das ist der einzige Weg, mich zu ändern.

Nun, das war's für heute im Großen und Ganzen.

In Amerika will uns nicht jeder Gerechtigkeit widerfahren lassen. Auf unserer Seite finden sich die erstklassigen Facharbeiter zusammen mit den Arbeiterverbänden, die Armen, die Italiener und die meisten anderen Immigranten, und natürlich die Radikalen. Gegen uns sind das Business, das Geld und die Macht: Geschäftsleute, Kleingrundbesitzer, Verkäufer, Fleischer, Bäcker, Geschäftsinhaber, die Kerzenmacher, die Mitglieder des jüngsten Country Clubs, die Makler, die Gerichte, etc. (Entnommen von der N.Y. World.)
Unsere Unterstützer müssen laut werden, um von unseren Mördern gehört zu werden; unsere Feinde brauchen nur zu flüstern oder einfach zu schweigen, und werden trotzdem verstanden. Wer diesen Umstand übersieht, hält den Klang und die äußere Erscheinung für die Wahrheit. Der Gouverneur hat die Einsetzung einer Kommission zur umfassenden, öffentlichen und dokumentierten Untersuchung aller Fakten des Falles abgelehnt; eine andere Möglichkeit für meine Verteidigung und Freiheit gibt es nicht - und die wurde verworfen. Also bleibt für uns entweder der elektrischen Stuhl oder lebenslange Haft. Sollte ich mich irren - umso besser;  um Verzeihung zu bitten machte glücklicher als zu verzeihen. Doch mein Blick in die Zukunft ist ungetrübt.

Gestern Nacht habe ich erfahren, dass der Gouverneur eine öffentliche Anhörung über den Fall ansetzt. Was er damit vorhat weiß ich noch nicht. Doch was immer es sein wird, es kann uns nicht schaden. Also bin ich froh darüber.

 

* Mrs. Sarah Root Adams aus Norfolk, Virginia, war eine der Unterstützerinnen.
** Industrial Workers of the Word, die internationale Gewerkschaft, gegründet 1905.
*** Im Original stellt Vanzetti "authoritarian" und "libertarian" gegenüber.

 
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31. Mai 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Genossin Blackwell,

Dein Brief vom 19. Mai traf gestern ein. Schön. Es freut mich zu hören, dass es Dir (hoffentlich noch immer) gut geht; es freut mich weniger zu hören, dass du furchtbar beschäftigt bist (vor allem für unseren Fall), denn Du schuftest zu viel. Als stolzer Anhänger Pythagoras' kann ich das nicht gut heißen.

Ja, in den vergangenen Tagen haben mich viele Briefe erreicht (darunter ein sonderbarer eines leicht verwirrten Absenders), wovon einige eine längere Antwort erforderten - doch hoffte ich, von Dir zu hören. Ich gehe davon aus, dass es Deinem Arm wieder besser geht.

Zwei Dinge in dem Fall sind für mich vorrangig: Erstens, dass die gesamte Anklage und Verfolgung so offkundig verlogen war, dass der aufgeklärteste und vernünftige Teil der Konservativen eine Richtigstellung verlangen muß, allein um sich zu schützen; zweitens, dass all das, was die Menschen, die Arbeiter (ich meine das Proletariat) und die klügsten Köpfe und größten Herzen für uns getan haben, ohne jeden Zweifel beweist: ein neues Verständnis für Gerechtigkeit bahnt sich seinen Weg durch die Seele der Menschheit; eine Gerechtigkeit, die vom Menschen als Menschen ausgeht. Denn wie ich bereits sagte: Du und alle setzen sich für uns auf eine Weise ein, die früher nur Heiligen und Königen vorbehalten war. Dies ist ein wahrer Fortschritt.

Ich bin auch von den Protesten der Studenten und der Intelligentia überrascht. Nun, Du warst großartig, wie Du dem Gouverneur klar machtest, dass er sich zwischen unserer Feiheit und unserem Tod entscheiden solle, doch ging ich dazu auf Distanz, aus dem einzigen Grund, dass ich es etwas zu ehrerbietig ihm gegenüber fand. Das konnte ich auch ausdrücken - jedenfalls so, dass er es verstehen können sollte - doch wurde auch der Hinweis darauf verwässert. Trotz allem hoffe ich, dass es zwischen den Zeilen und jenseits der Worte des Gesuches klar lesbar ist. Dein Schreiben an den Gouverneur ist bestimmt ein gelungenes Schriftstück, dass ich gerne lesen würde. ...

Dass der Gouverneur keine Kommission bestellt macht mich unzufrieden. Es stimmt zwar, dass er alleine dasselbe machen kann wie mit eine Kommission, doch baute ich auf eine öffentliche Untersuchung und einen soliden Bericht, der unantastbar und unwiderlegbar sein würde. Doch so, im Geheimen - wer weiß, was vor sich geht. Kommt es zu keinem Prozess und wird der negativ entscheiden, bleiben die Gründe, die er gibt, fern jeder Analyse oder Kontrolle. ...

Mein Punkt ist der, dass Fuller deshalb keine öffentliche Untersuchung über alle Fakten dieses Doppel-Falles anordnet, weil der Justizskandal sonst aufgedeckt würde, also schützt er lieber den Ruf von Thayer und den anderen Richtern als uns zu helfen. Ich zweifle auch daran, dass er ein Interesse daran hat, uns eine lebenslange Haftstrafe zu geben, und dass er weiß, dass dies nur mit einer öffentlichen Untersuchung möglich ist. Denn nichts ließ mich meine Meinung bis jetzt ändern. Der Staat von Massachusetts will uns töten, und mehr wird er uns nicht gewähren. ...
 
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10. Juni 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Winslow,

eben habe ich meine morgendlichen Übungen (die ich seit meiner Krankheit mache) abgeschlossen, und meine Hand zittert noch von der Anstrengung, doch mein Herz ist ruhig und freut sich darüber, dass ich nun Ihren netten Brief vom 3. Juni beantworte. Wissen Sie, der Arzt wundert sich ein aufs andere Mal, wie stark mein Herz ist.

Sie letzten Mittwoch zu sehen hat mir sehr gut getan. Die Unsicherheiten, Enttäuschungen und immer weiteren Verschlechterungen dieses Zeitalters finden in einer semi-philosophischen Meta-Physik ihren Schutzraum, vertreten durch längst veralterten Glauben, präsentiert im Gewand neuer und überladener religiöser Gruppen, die auf menschlicher Leichtgläubigkeit, Elend, Unglück und Sehnsüchten fett und herrlich gedeihen. Wie mir ein Freund des Westens erzählte: "Die Bauern und Kleinhändler haben hier eine harte Zeit und die schlechtesten Aussichten und schauen erfreut auf die Christian Science!" Was, wie ich behaupte, zeigt, wie man Schlechtes zum Guten wandeln kann, indem man sich belügt und es für gut hält, trotz des schlechten Einflusses; trotz der Sinne, der Vernunft und und des Verstandes, die die einzigen Mittel sind, die uns das Universum gab, um uns ein Urteil zu bilden, all unserer Schwächen zum Trotz.

Einige Zeit, solange die Autosuggetion anhält und die Probleme nicht schlimmer werden, funktioniert das gut. Doch ist es ein wunderbares Werkzeug der Stagnation, was Rückschritt bedeutet. Das wird völlig klar und unbestreitbar, wenn man an die armen Bauern denkt, die glauben sollen, allein durch ihre Vorstellung, dass alles gut gehen wird, es auch so wird - während die Banken, die Konzerne, die Railroad Corp. und die gierige Abart der Parasiten, die vom Schweiß der Bauern und den Bedürfnissen der Konsumenten lebt, ihre Zähne schärft und die Raubbeute an sich reißt; und die Regierung wird, auf Druck anderer Dinge, immer kostspieliger und tyrannischer. ...

Dieser lange Sermon wurde durch Ihren Brief inspiriert, nicht durch meine Freundin aus dem Westen, die die Christian Science auslacht und an andere lustige Dinge glaubt - lustig für mich, doch sehr ernst für sie. Denn seit ich begonnen habe, in meiner Zelle ein wenig zu trainieren und im Hof mit den Bällen zu spielen, bin ich ein anderer Mensch: Es tat mir besser als hunderte Predigten und Gedankenspiele. So war es mir möglich, gestern sieben passable Briefe zu schreiben und - am Tag davor - mit Ihnen zu reden.

Sie sagen, ich sollte nicht verzweifeln. Victor Hugo sagte, Hoffnung wäre die höchste Göttin, gäbe es die Verzweiflung nicht. Hat jemand Grund, verzweifelt zu sein, und ist es nicht, wäre er abnomaler, als wenn er verzweifeln würde. Wie auch immer, wenn man nicht einmal mehr verzweifeln kann, sollte man sich die Mühe sparen, es zu versuchen. Mich überwältigt die überlegene physische Kraft des Staates, also --! ...

Es ist nicht so, dass ich bezüglich des Ausganges des Falles pessimistisch bin, weil ich den Herren, die den Fall untersuchen sollen, oder dem Gouverneur selbst misstraue, oder glaube, den elitären Klassen wäre jeder Gerechtigkeitssinn vorenthalten. Nein, gar nicht, denn ich kenne diese vier Herren* nicht und weiß, dass die Natur in jedes durch Frauen geborene Wesen die gleichen Instinkte und Gefühle haucht - auch wenn diese durch schlechte Umgebung, Ausübung von Macht, Herrschaft, Privilegien, extreme Bedürfnisse und Überfluss, Nichtstun und Überarbeitung etc. etc. pervertiert werden. Doch baue ich meine Meinungen und Erwartungen auf andere und abgesichertere Fakten und Daten als die oben Erwähnten. Thayer unternahm was er konnte, um uns aus Klassenhass zu ermorden, für die eigene Karriere und Ehre, um als Richter zum Obersten Gerichtshof berufen zu werden. Die Obersten Richter folgten ihm auf schreckliche Weise und bringen gerade Dritte dazu, unsere Tötung voranzutreiben. Kein Zweifel, dass uns sowohl die Judikative wie die Legislative von Massachusetts am liebsten mit bloßen Händen umbringen würden. (Schauen Sie sich das Verhalten des Staatskongresses bei der Rep. Sawyer Resolution an.) Nun, die Akten über den Fall würden unsere späte Befreiung erfordern, wären wir nicht Menschen sondern Skorpione; aber glauben Sie, dass bei den vier Herren genug Nerven und Wille dafür vorhanden sind? Dass Sie uns frei lassen? Ich wünschte, Sie hätten recht, doch sehe ich keinen Grund, keinen Präzedenzfall, keinen Umstand, der mir erlauben würde, das zu glauben. Vor rund sieben Jahren habe ich klar gesehen, dass der Staat von Massachusetts alles tun würde, um uns zu töten, und dass, wäre es zu schändlich und gefährlich geworden, der Staat uns lebendig in Charlestown begraben wird, wie es Kalifornien mit Mooney tat, dessen Fall unserem so gleicht wie sich zwei Tropfen Wasser gleichen. Jener Fall ist ein schrecklicher Präzedenzfall und er muss von jenen aus der Rechtsgeschichte gestrichen werden, die das Recht und die Macht - und die Pflicht - dazu haben.

Doch da wir nun im Gefängnis von Charlestown begraben sind, werden wir nur herauskommen, wenn wir nicht mehr wir sind: entweder als zwei tote Körper oder als zwei menschliche Schatten - doch nicht mehr als Menschen. Ich will der Wahrheit und der Realität tapfer in die Augen sehen - hätte ich von allen Männern jeden Zehnten, könnten Sie sehen, was ich auf der Welt zustandebrächte!

Doch lassen wir diese Schwärmerei. Sie sind gut zu mir und tun sehr viel für uns - und da es so scheint, ich glaube gern, dass Sie mit all unseren Freunden schon halb gewonnen haben. ...

 

* Joseph A. Wiggin, persönlicher Rechtsvertreter von Gouverneur Fuller, der während der Untersuchung an der Seite des Gouverneurs war, und das Kommitee des Gouverneurs, bestehend aus dem Präsidenten Lowell von Havard, Präsident Stratton vom Technischen Institut Massachusetts, und Richter Grant.

 
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14. Juni 1927, Gefängnis Dedham

Mein guter Freund Jackson,*

ich weiß, dass für Dich diese wenigen Worte überraschend kommen, doch das sollten sie nicht, denn seit ich Dich kenne und mir meine Kameraden von Deiner ernsthaften Solidarität mit dem Verteidigungskommittee erzählt haben, hatte ich immer den Gedanken, Dir diese wenigen Zeilen als Dank für all Dein ernsthaftes Interesse, welches Du für die Erlangung unserer Freiheit investiert hast, zu senden. Auch wenn ich weiß, dass wir im Herzen gleich sind, so vertreten wir leider dennoch zwei entgegengesetzte Klassen; die erste will um jeden Preis überleben, die zweite für die Freiheit kämpfen und, wenn man sie ihr nimmt, dagegen rebellieren; gleichwohl diese Klasse weiß, dass die Macht der ersten, der entgegengestezten Klasse, sie für diese heilige Rebellion kreuzigen wird. Es ist tatsächlich wahr: den Körper können sie hinrichten, nicht jedoch die Idee, welche an das Leben selbst gebunden ist. Und solange diese Ordnung bleibt, in der Menschen unter der Herrschaft anderer Menschen ausgebeutet werden, so sicher wird es immer den Kampf zwischen diesen beiden Klassen geben, heute und für alle Tage. Doch jedesmal, wenn das Herz eines Menschen aus der oberen Klasse sich mit dem eines der Ausgebeuteten im Kampf um ihr Recht verbindet, kommt es aus einer wohlbekannten Verbundenheit zu einer spontanen Anziehung und brüderlichen Liebe füreinander. Dein letzter Besuch mit den Kameraden Felicani, Moro** und Georg Branting*** erschien mir wirklich wie der Besuch von Bekannten und es war gar der fröhlichste, den wir unter uns Freunden seit dem Tag des Urteilsspruches hatten.

Es hat mich gefreut zu hören, dass du meine Kleinen besuchen warst. Ich liebe Ines so sehr wie ich Dante liebe, der stets mein Kamerad im Haus war, und auch überall, wo ich sonst hinging...

 

* Gardner Jackson, vormals Reporter des The Boston Globe und seit Anfang 1927 Mitglied im Verteidigungskommittee
** Joseph Moro, italienischer Schuhfabriksarbeiter wurde 1926 Sekretär des Verteidungskommittees
*** Georg Branting, Sohn von Hjalmar Branting, vormals Ministerpräseident Schwedens und Präsident des Völkerbundes. Georg Branting wurde als Mitglied der Stockholmer Anwaltsvereinigung durch Schwedische Arbeiterorganisationen im Juni 1927 nach Boston gessendet, um den Fall außer nächster Nähe zu untersuchen.

 
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20. Juni 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Mrs. Winslow,

in der Hoffnung, Sie morgen zu sehen, habe ich gerade meine Briefe-Sammlung an Sie und meine Familie abgeschlossen.

Jetzt nur noch ein paar Worte zu Ihrer Reise. Ich glaube tatsächlich, dass Ihr Plan, erst meine und dann - über die Adriatic-Linie - Nicks Familie zu besuchen, die bessere Entscheidung ist, es sei denn, die wollten einen plötzlichen Wechsel von einem kalten in ein warmes Klima vermeiden.

Von hier nach Paris zu reisen, ist Ihnen vertrauter als mir. Es wäre gut, gäbe es eine direkte Verbindung von Paris nach Turin. Wenn nicht, sollten Sie eine Fahrkarte von Paris nach Modane nehmen, anschließend von Modane nach Torino. In Turin nehmen Sie dann eine Fahrkarte in meine berühmte Metropole - im ganzen Universum und darüber hinaus bekannt als Villafalletto. (Um sich durchzufragen, werde ich Ihnen etwas schriftlich zukommen lassen.)

Nun, wenn Sie meine Heimat erreichen, machen sie Sie auch zu der Ihren. Sie werden von der langen Reise erschöpft sein und dies ist ein guter Ort, um auszuruhen und sich zu erholen.

Innerhalb eines Tages anzukommen und aufzubrechen würde Sie nur sinnlos ermüden. Auch fehlte dann Zeit, meinen Leuten alles zu erläutern. Davon abgesehen könnte der Übersetzer nicht da oder beschäftigt sein. Doch wenn Sie länger bleiben können, werden alle Zeit haben, sich gegenseitig zu verstehen und zur erklären. Meine Schwester wird glücklich sein, sie da zu haben - sie mögen und sind stolz auf alle, die uns helfen. Also, bitte, fühlen Sie sich wie zu Hause und gehen Sie erst, wenn sie ausgeruht sind.

Wenn Sie in Turin ankommen (den Zug nach Villafaletto werden Sie an der selben Station nehmen müssen), können Sie am besten gleich das dortige Büro von American Express aufsuchen um herauszufinden, wann Sie welche Verbindungen in Nicks Heimat führt - falls es die Zeit nicht erlaubt, können Sie es bei bei Ihrer Rückkunft in Turn herausfinden.

Vermeiden Sie es, in Turin die Nacht zu verbringen. Haben Sie jedoch keine andere Möglichkeit, erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen darüber gesagt habe.

Nun, ich wünsche Ihnen eine gute Reise und begleite Sie in meinen Gedanken und mit meinen besten Wünschen.

Ich bin nicht zu optimistisch was den Ausgang des Falles betrifft - und ich sehe die Möglichkeit, bei Ihrer Rückkehr nicht in der Lage zu sein,  Sie zu sehen und zu begrüßen. Es scheint zwar sicher, dass der Gouverneur den Termin der Hinrichtung auf September verschiebt - dennoch sehe ich weder Gerechtigkeit noch Gutes auf uns zukommen; die Mächte der Dunkelheit und Tyrannei wetteifern um unseren Untergang.

Doch seien Sie frohen Mutes - und erzählen Sie bitte den meinen all das, was Sie im Herzen tragen.

 
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22. Juni 1927, Gefängnis Dedham

Mrs. Sarah Root Adams,

ich danke Ihnen für Ihre freundliche Antwort vom 17. Juni - und für Wörter der Wahrheit. Ich glaube auch, dass Richter gute Menschen sein können, es möglicherweise sind - jene, die mich so kaltblütig mordeten, ausgenommen. Richter sind wie sie sind, stets waren und immer sein werden: bösartig, so lange die Menschheit unterschieden wird durch Dummköpfe auf der einen und Gauner auf der anderen Seite, und solange die Welt aus Richtern, Polizei, Spionen, Denunzianten, Henkern, Gefängnissen und Gefängniswärtern, Anklägern, Soldaten, Prostituierten, Dieben, Unterdrückten und Unterdrückern, Ausgebeuteten und Ausbeutern besteht - sie sind der Grund, warum wir Richter brauchen und umgekehrt.

Ein großer Mann, den ich sehr schätze und bewundere, Malatesta, hat gesagt: "Jede neue Idee in der Geschichte, die etablierte Interessen bedroht und die geistige Trägheit, Ignoranz und den falschen Stolz der Mehrheit stört, hat stets drei schreckliche Feinde heraufbeschoren: die Verleumdung, die Ignoranz und die Falschheit." Ich glaube eher, deshalb im Gefängnis zu sein, weil ich die Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen durch Menschen mit aller Kraft bekämpfte, als auf Grund meiner jüngsten Gedanken.

Nun, liebe Mrs. Adams, ich werde alles tun, so viele und so große Botschaften der Liebe so weit und so hoch zu senden, wie ich kann, denn "teuflische Taten in Aktion" vermag ich weder zu verhindern noch aufzuhalten.

Noch hat Gouverneur Fuller nichts über eine Verschiebung unserer Hinrichtung gesagt. Lässt er die nächsten acht Tage nichts verlauten, werden wir in das Todeshaus des Staatsgefängnisses gebracht, um bald den Flammentod zu erleiden, oder ... wer weiß ... Die Umstände sind jedenfalls sehr unerfreulich.
An Sie werden wir voller Zuneigung denken.

 
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22. Juni 1927, Gefängnis Dedham

Liebe, liebe Freundin Mrs. Evans,

es war freundlich von Ihnen mir einen so netten und schönen Brief zu schreiben wie zuletzt, wo Sie mitten all der Probleme und Sorgen stehen, die der Beginn im Sommerhaus mit sich bringen.

Oh, die See, der Himmel, das befreite, volle Leben des Windes von Cape Cod! Vielleicht werde ich all das nie mehr sehen, nie mehr atmen, nie mehr in mir vereinen können. ...

Die zwei Bände von The Rise of American Civilization haben mich mit Ihrem Brief erreicht. ... Ich bin nun bis Seite 136, erster Band, gekommen. Ich lese fast ausnahmslos zur Bettzeit, nach 9 Uhr, wenn die nächste der zwei elektrischen Lampen bereits erloschen ist. Dann sitze ich am Ende meines Bettes, platziere ein Kissen an die Wand, eine Decke an meiner Schulter, und genieße in der Ecke meiner Zelle beim Fenster diese Historie beim Schein der Lampe, während ich die Schatten der Fenstergitterstäbe möglichst vermeide.

Ich schätze sowohl Stil als auch Haltung der Autoren - und mag deren Berurteilungsmaßstäbe. Natürlich erscheinen diese Bücher Leuten aus meiner Schicht, mit geringer Bildung, ohne dem Rüstzeug tieferer Recherche und Auseinandersetzung, weder durch einen Proudhon, einen Michelet, Marx, Malatesta oder der anderen erhellt, wie einem Mann, der keine Ahnung von Arithmetik hat, jemand erscheinen muss, der an einer Tafel eine Gleichung mit Unbekannten löst. Die Zeichen und Buchstaben und Ziffern, Abkürzungen und Abläufe ließen den Unbedarften ratlos zurück. Doch würde, so weit ich sie erschließen kann, diese Geschichte viel über die unterschiedlichen Interessen erzählen, die fast ausschließlich zwischen einer herrschenden und einer halb-herrschenden Klasse stattfinden. Sie inspiriert zur Freiheit, die eine umfassende, souveräne Herrschaft bringt. Ihre Lektüre hinterließe einen bürgerlichen Arbeiter oder einfachen Mann, der so bourgeois ist, wie er es am Anfang war.

Bis jetzt finde ich nichts über die instinktiven, intuitiven Sehnsüchten der Armen, der einzigartigen, leidenden Seelen, die sich kaum artikulieren können - es sei denn, man ginge davon aus, diese glichen den Herren, was mir aber aus heutiger Sicht nicht der der Fall zu sein scheint.

Vielleicht liege ich falsch und mein Urteil über dieses Werk ist zu harsch. Immerhin konnte ich bislang zu den Beginn lesen. So ätzend meine Kritik an dem Buch auch sein mag, so genieße ich es doch sehr und lerne viel daraus. Ich lese es im Lichte Proudhons; sich widersprechende doch gelehrige Glaubensgrundsätze sind nach meiner Auffassung sehr nützlich. Es gibt nur ein großes Problem: Der Henker von Massachusetts wird mir wohl kaum genug Zeit gönnen, die Lektüre zu beenden. Ansonsten ist alles in Ordnung.

Wie ich bemerke, bestehen die Autoren zu Beginn des Buches darauf, dass der Faktor der Ökonomie zwar sehr wichtig, doch nicht der einzige ist. Doch wenn es darum geht, den anderen historischen Faktor aufzuzeigen, versagen sie völlig. Sie zeigen auf, dass Politik, Religion, Gesetzgebung und Verwaltung sich stets dem ökonomischen Ziel (Macht und Herrschaft), das die Herrschaftsklasse oder Klassen, welche die Herrschaft anstreben, unterordnen. Zu dieser Sache habe ich etwas in meinem Säckchen philosophischer Weisheiten, und lasse Ihnen etwas davon die nächsten Tage zukommen.

Ich zähle mich demütig und bescheiden zu jenen anti-marxistischen Sozialisten, die zwar die Ökonomie als Basis sehen, doch nicht als einzigen und möglicherweiser nicht einmal größten historisch relevanten Faktor. Proudhon legt dar, dass die Causa Prima aller Kriege, Kämpfe und Revolutionen der Pauperismus - nicht gleichgedeutend mit Armut -  ist, und dass Armut, Arbeit, Entbehrung, Lernen und immerwährende Leidenschaft für dei Philosphie (Suche nach der Wahrheit) das Schicksal der Menschen auf Erden darstellt. Dessen ungeachtet ergeben wir uns dem Herrschaftsstreben, der Trägheit, dem Materialismus, und bereiten uns so unser Elend; Krieg wird die Menschheit vernichten, wenn wir nicht heorisch die Ursachen für den Krieg, die auch in uns liegen, auslöschen. Was schrieb er nicht alles auf - Seite für Seite lassen an einen Titanen denken - an einen Vorderkopf so groß wie die verfluchte Kuppel des Staatsgefängnisses. [...]

Nun, wenn meine Übersetzung von Proudhons Peace & War [Friede & Krieg] bei Vanguard  veröffentlicht wird, sende ich Ihnen eine Ausgabe, wenn-wenn-wenn Fuller mir nicht das Gegenteil seiner beneplacido [etwa: Wohlwollen - Anm. d. Übers.] zuteil werden lässt. ...

Handelt es sich bei dieser Doppel-Untersuchung um eine weitere Farce? Wird uns wieder ins Gesicht gespuckt? Ist sie ein Schwamm mit bitteren Essig auf der Lanzenspitze? Wird sie der letzte Stoß in unsere Rippen? Ach, ich wurde von allen so gemein und bestialisch behandelt, dass ich keinem jenseits des Schutzwalles trauen kann - obwohl ich weiß, dass das falsch ist.

Das Licht ist ausgegangen, ich beende diesen Brief, um es mir in der Ecke einzurichten, wo ich Ihre Amerikanische Geschichte lese. Gute Nacht, liebe Mrs. Evans, und alles Gute.
 
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23. Juni 1927, Gefängnis Dedham

Liebe Tante Bee,

am gestrigen Morgen war der Tag so strahlend hell, die grünen Baumblätter schwangen lebendig in der fröhlichen, sanften Brise, während die goldenen Sonnenstrahlen diese prächtige Umgebung wärmten und die kleinen Vögelein so vergnügt sangen. Doch ab der Mittagszeit - und über die Nacht - haben sich Wetter und Wind bis zum heutigen Morgen verändert.  Die Seele hier hat sich so zum Traurigen verändert, dass ich wünschte, sie hätte mit einem Schlag aufgehört zu existieren.

Vom Grunde meines Herzens wünsche ich mir, dass Du mich verstehst - dass ich müde bin, dies alles schlucken zu müssen - den Abschaum und all den Schmutz, mit dem ich nicht weiß, was ich machen soll. Ich bin auch müde, heute Deiner kleinen Geschichte für den nächsten Tag zuzuhören, und vergiss niemals: zu allen Zeiten der Geschichte waren grausame Verhöre und Verfolgungen niemals Instrumente der Güte und Erziehung, sie waren es niemals und werden es niemals sein, meine arme Begleiterin!

Ich sage Dir, dass ich müde bin, diese feige Verfolgung durch jene Gesetzesmänner, denen Du treu bist, weiter zu ertragen; niemand anderes als ich soll leiden und diesem inquisitorischen Gesetz geopfert werden, denn ich ... habe versucht diese verfallene Gesellschaft im Zentrum zu treffen, um die volle Freiheit und Glückseeligkeit für die Augebeuteten zu erobern ...

Ich möchte, dass das verstanden wird! Wie ich oben schon sagte: niemand anderes sollte danach wieder Schmerz erfahren, denn ich bin müde, diesen Schmerz wie auch Deine unnützen Geschichten noch länger ertragen zu müssen.

Ich weiß, es wird Dich sehr schmerzen und ich leide jetzt schon darunter. Doch denke an mich, Mutter!, wie in all den Jahren des Kampfes: dass ich Dich liebe wie ich meine arme, liebe Mutter geliebt habe. Wenn ich falle, wisse, dass Seele jene mütterliche Zuneigung mit meiner bescheidenen begraben wird, diese Seele, die dich so liebt, wie nur eine gute Mutter geliebt werden kann ...
 
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Weitere Briefe folgen...

 

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